: Handwerk der Demokratie
U18-WAHL Rockmusiker geben Gemeinschaftskunde-Stunden in der Sächsischen Schweiz. „Etwas bleibt immer im Kopf hängen“ – und vielleicht erreicht es sogar die Eltern
AUS FREITAL MICHAEL BARTSCH
Kann Streit auch nützlich und gut sein? Wo wir doch sonst so auf Harmonie bedacht sind? Anhand von unvermeidlichen Querelen in ihrer Rockband Pi! geben die beiden Dresdner Musiker Christoph Meißelbach und Felix Franz am Mittwoch Schülern einen Demokratie-Grundkurs. Die Zehntklässler der „Waldblick“-Mittelschule in Freital bei Dresden sollen selbst sagen, was Vor- und Nachteile verschiedener Formen der Entscheidungsfindung sind.
Dazu gehört: Wie verletzend, schmalspurig, aber auch bequem es zugehen kann, wenn nur einer bestimmt. Wie das andere Extrem, das aus der EU bekannte Einstimmigkeitsprinzip, zu Blockaden und gleichfalls zu übermäßiger Macht Einzelner führen kann.
Wie von selbst gelangt die Klasse schließlich zum Mittelweg: Nicht einer, nicht alle, eine Mehrheit entscheidet, wie das Cover der Band-CD aussehen soll und in welche Richtung es musikalisch gehen soll. „Heraus kommt nicht unbedingt die optimale Problemlösung, aber eine, mit der die meisten leben können“, schlussfolgert Sänger Christoph, der nicht zufällig bereits junger Politologie-Assistent an der der TU Dresden ist.
Die Aktion Zivilcourage aus Pirna hat ihn und andere Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Pop und Sport für die Vorbereitung der U18-Wahlen am heutigen Freitag gewonnen. An 21 Schulen des Landkreises Pirna-Sächsische Schweiz geben sie Gemeinschaftskunde-Stunden – so wie rund 40 Schüler, die der Zivilcourage-Verein dafür trainiert hat.
Das kommt gerade in Freital hervorragend an. Der Gemeinschaftskundeunterricht ist hier offenbar sowieso nicht schlecht. Denn auffällig viele „Waldblick“-Mittelschüler sind mit dem Demokratie-Handwerk bereits vertraut, die Hälfte der Klasse beteiligt sich rege an der Diskussionsstunde. Das ist nicht überall so, wissen die Pi!-Musiker und Tom Waurig von der Aktion Zivilcourage. „Aber etwas bleibt immer im Kopf hängen“, sagt Waurig, und aller Erfahrung nach stimuliert man damit auch das Gespräch im Elternhaus.
Die Freitaler Schüler goutieren sowohl den Stil der nur wenig älteren Pop-Musiker wie auch deren Praxisbezug. „Das sind normale Menschen – die anderen sind halt Lehrer“, meint ganz unbefangen ein Fünfzehnjähriger. Einige Schüler werben ausdrücklich für die U18-Wahl, die sie am Freitagabend mit einer Party in Pirna feiern wollen. Aber für ein Wahlalter 16 plädieren nicht alle. Ausgerechnet die Hellsten halten sich für zu wenig qualifiziert und erfahren. Wenn, dann sollte es zuvor bitte keinen ausgesprochenen Wahlkampf an der Schule, aber ausführliche Parteieninformationen geben, meinen sie.
Der überproportional hohe Zuspruch der jüngsten potenziellen Wähler zu rechten Parteien war nicht Auslöser des Projekts der Aktion Zivilcourage und beunruhigt auch die Schüler kaum. Einer findet die Argumente und Plakate der NPD sogar „sehr überzeugend“. Die Auseinandersetzung mit ihnen stellen die meisten auf eine Stufe mit der über Parolen anderer Parteien. Kein Wort darüber, welche sie favorisieren. Wahlgeheimnis eben auch bei den U-Achtzehnern.
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