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Aus Armut wird Gewalt

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

Es hatte der Beginn einer hoffnungsvollen Entwicklung sein sollen. Im Sommer 2000 legte der damalige deutsche Botschafter, Dr. Rudolf Schmidt, in Diyarbakir, der größten Stadt im kurdischen Südosten der Türkei, den Grundstein für eine Kläranlage. Mit Geldern der Europäischen Entwicklungsbank und unter Federführung der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) sollte Diyarbakir ein neues Abwassersystem bekommen und die Trinkwasserversorgung der Millionenstadt insgesamt verbessert werden. Dieses Projekt ist mittlerweile abgeschlossen, aber es blieb bis heute ein Unikat. Aus der geplanten Initialzündung für eine breite Entwicklungszusammenarbeit wurde nichts.

Der Hauptgrund dafür, warum alle weiteren Projekte der EU in den kurdischen Gebieten der Türkei über das Planungsstadium bislang nicht hinauskommen, ist die türkische Wirtschaftskrise vom Februar 2001 mit ihren Folgen bis heute. Mit dem Fastbankrott des Staates wurden sämtliche Entwicklungsprojekte auf Eis gelegt.

Die EU zögert

Das ist im Wesentlichen so geblieben. Die EU will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, sie investiere aus politischen Gründen in den Kurdengebieten mehr als in anderen armen Regionen. Deshalb will sie nur Projekte umsetzen, an denen sich der türkische Staat mit Bürgschaften oder Eigenanteilen beteiligt. Doch die kommen nicht. Die letzte Pleite auf diesem Gebiet war ein Projekt im sozialen Wohnungsbau in Diyarbakir, das überwiegend aus EU-Geldern finanziert werden sollte. Auch diesmal scheiterte alles an der Weigerung des türkischen Finanzministeriums, einen Eigenanteil zu übernehmen.

Das Einzige, was die derzeitige türkische Regierung an Unterstützung für den kurdischen Südosten und andere unterentwickelte Regionen des Landes zur Verfügung stellt, sind Steuerermäßigungen für Unternehmen, die in diesen Regionen investieren wollen. Das kostet nichts, weil sowieso keine der großen türkischen Holdings sich im Südosten engagieren will. „Das bringt nichts“, sagte ein führender Manager der Koc-Holding, dem größten türkischen Konzern, auf Nachfrage, „dort fehlt jede Infrastruktur.“

Das Ergebnis dieser Politik ist nun in Diyarbakir und anderen Städten im Südosten zu besichtigen. Die Arbeitslosigkeit liegt über 50 Prozent, vor allem ein großer Teil der jungen Bevölkerung sieht für sich keine Perspektive. „Der Südosten ist ein wirtschaftliches Desaster, und die Regierung hat offenbar nicht die Absicht, daran etwas zu ändern“, beschreibt der bekannte Kolumnist Cengiz Aktar die Situation. Die Jugendlichen werden zu „potenziellen Opfern für alle Sorten von Provokateuren und Extremisten“. Deshalb sei es kein Wunder, dass sich so viele von ihnen an den Straßenschlachten der letzten Woche beteiligt hätten.

Aktar und andere fordern eine große Initiative für eine neue Kurdenpolitik – auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet. Davon war allerdings in der gestrigen Sondersitzung des türkischen Parlaments keine Rede, bei der über die Konsequenzen aus der blutigen letzten Woche, mit insgesamt 15 Toten und hunderten Verletzten, diskutiert wurde.

Justiz- und Innenminister wollen eine Verschärfung der Antiterrorgesetze, um Polizei und Gendarmerie wieder eine größere Handhabe zu geben. Das würde die in den letzten Jahren seit Aufhebung des Ausnahmezustandes mühsam erkämpften demokratischen Freiräume wieder erheblich einschränken.

Auch die Opposition drängt auf schärferes Durchgreifen von Polizei und Militär und beklagt, dass die Regierung den kurdischen Extremisten die Straße überlassen habe. Vor allem der Angriff von Anhängern der separatistischen militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK auf einen vollbesetzten Linienbus in Istanbul am Sonntag, bei dem drei Frauen verbrannt sind, hat die Stimmung noch einmal deutlich verschärft.

Dagegen warnt der Gouverneur von Diyarbakir – also der höchste staatliche Beamte der Region – davor, nun wieder ausschließlich auf Repression zu setzen. „Die PKK erwartet, dass der Staat wieder mit seinen alten Reflexen reagiert und der Konflikt sich dadurch ausweitet. Wir sollten nicht in diese Falle tappen“, sagte er in einem Interview mit der Tageszeitung Milliyet. Stattdessen sollten die Reformen fortgesetzt werden.

Kurdisches Fernsehen

Dass dieser Reformprozess so schleppend verläuft, ist für die kurdischen Politiker der Hauptgrund für den neuerlichen Gewaltausbruch. Jahrelang habe es gedauert, bis Kurdischunterricht zumindest in privaten Sprachschulen endlich erlaubt wurde. Erst vor einer Woche haben die ersten zwei kurdischen Privatfernsehstationen die Sendeerlaubnis bekommen.

Die versprochene Unterstützung für Bauernfamilien, die während des Krieges aus ihren Dörfern vertrieben wurden und nun zurück wollen, sei auch ausgeblieben. Vor allem verweigere die türkische Regierung nach wie vor den Dialog mit den gewählten Vertretern der Kurden, beklagten gestern sowohl der Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, wie auch der starke Mann der kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft, Ahmet Türk.

Darauf antwortete ihnen Ministerpräsident Tayyip Erdogan in einer Rede vor seiner Fraktion. Zuerst einmal, so der Ministerpräsident, sollten die kurdischen Politiker sich von der Gewalt distanzieren und ihr Verhältnis zur Terrororganisation PKK klären. Erdogan ist offenbar von den bekannten kurdischen Politikern zutiefst enttäuscht, weil sie seine politische Initiative vom letzten Jahr ins Leere laufen ließen. Er war im Juni 2005 nach Diyarbakir gefahren und hatte dort – trotz massiver Kritik aus dem nationalistischen Lager – öffentlich von der „zu lösenden kurdischen Frage“ gesprochen. „Es kam aber keine Reaktion aus dem zivilen Lager der kurdischen Gesellschaft“, beklagte er gestern vor dem Parlament.

Stattdessen hatte ihm die PKK geantwortet und einen Waffenstillstand für einen Monat verkündet, damit Erdogan die kurdische Frage lösen könne. Eine Provokation für den Ministerpräsidenten und aus Sicht Erdogans ein klares Zeichen, dass die gewählten kurdischen Bürgermeister und Chefs der legalen kurdischen Partei sich nach wie vor der Strategie der PKK und deren inhaftierten Führer Abdullah Öcalan unterordnen.

Seit die PKK ihren nach der Verhaftung und Verurteilung Abdullah Öcalans 1999 verkündeten Waffenstillstand vor knapp zwei Jahren beendet und sich mit blutigen Attacken auf Polizei, Militär und andere staatliche Einrichtungen im Südosten wieder zurückgemeldet hat, steht die sich abzeichnende Normalisierung in den kurdischen Provinzen wieder in Frage.

PKK setzt auf Gewalt

Durch die Angriffe wollte die PKK ursprünglich erzwingen, dass Öcalan von der türkischen Regierung als Gesprächspartner akzeptiert wird. Mittlerweile setzt die PKK aber wieder eher darauf, mit Hilfe des Kurdenstaates, der de facto im Nordirak existiert, auch in der Türkei eine autonome kurdische Region durchzusetzen. Mit Anschlägen versucht die PKK, das Land zu destabilisieren.

Es ist sehr fraglich, ob Erdogan sich in dieser Situation noch einmal zu einer politischen Initiative entschließt, einschließlich des von vielen Seiten geforderten wirtschaftlichen Masterplans für die kurdischen Provinzen. Gut möglich, dass er wieder auf die Durchschlagkraft von Armee und Geheimdienst setzt. Ein Zurück zum Status quo wird es nach den Auseinandersetzungen der letzten Woche kaum geben.

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