: 39 Stunden: „Scheiße, aber realistisch“
Nach neun Wochen Streik in Baden-Württemberg finden kommunale Arbeitgeber und die Gewerkschaft Ver.di zusammen. Der Ver.di-Bezirksleiter muss seine Leute auf Kompromiss einschwören. Besser als nichts, sagt er. Und: „Wir werden weniger“
AUS STUTTGART HEIDE PLATEN
Bernd Riexinger hatte gestern Morgen alle Hände voll zu tun, um die Gemüter der Stuttgarter Müllwerker zu beruhigen. Wochenlang musste der Ver.di-Bezirksleiter seinen Leuten einbläuen, dass der Arbeitskampf andauern muss. Nun, in der neunten Streikwoche, machte er ihnen vorsichtig klar, dass sie sich auf einen Kompromiss einstellen müssen. Kein Sieg, aber ein Kompromiss.
Die Dienstleistungsgesellschaft Ver.di wollte für die 220.000 Angestellten der Städte, Gemeinden und Landkreise in Baden-Württemberg eine Arbeitszeiterhöhung verhindern. Bisher wird 38,5 Stunden gearbeitet, die Arbeitgeber wollten eine 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich. Nun hat man sich bei 39 Stunden getroffen.
Eigentlich hatte Ver.di schon früher eingelenkt und den Streik nach sechs Wochen wieder auf punktuelle Aktionen zurückgeschraubt. Müll wurde geräumt, Kitas wurden wieder geöffnet. Aber auch nach fast neun Wochen Streik waren viele Gewerkschafter gestern noch in Kampfesstimmung. Bezirksleiter Riexinger erklärte der Streikversammlung der Stuttgarter Müllabfuhr, dass ein Tarifabschluss „39-Stunden-Woche für alle“ zwar kein wirklich furioser Sieg sei, aber auch keine richtige Niederlage: „Nach 14 Jahren Stillstand haben wir uns endlich mal gewehrt.“ Sicher, 39 Stunden, das sei schon „Scheiße“, aber immerhin besser als 40 und „ein realistisches Ergebnis“. Man habe eben nur zwei Alternativen gehabt: „Weiterstreiken oder in den tariflosen Zustand gehen.“ Außerdem sei, sagte er, nicht zu übersehen, dass „wir weniger werden“. Das dürfe sich aber niemand „als Niederlage einreden lassen“. Er rief dazu auf, sich bis zum Montag an der Urabstimmung zu beteiligen.
Die Versammlung der Müllwerker nahm das mit gemischten Gefühlen auf. Die Streikwilligen buhten und bliesen in ihre Trillerpfeifen, die Streikmüden applaudierten. „Das Nächste, was sie uns jetzt streichen werden“, murrte einer, „sind das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld.“ Giovanni und Sergio hätten gerne weiter gekämpft. Immer nur „parlare, parlare“, immer nur reden, das sei typisch deutsch. Bei der anschließenden Demonstration marschierten sie vorneweg und schoben zwei graue Müllcontainer durch den kalten Regen, in denen als Putzhexen verkleidete Kolleginnen ihre Besen schwangen. Ihre italienischen Parolen in Richtung Rathaus mochten sie nicht wörtlich übersetzen, „so was wie Arsch eben“.
Nach den Müllwerkern hatten die Angestellten des Jugendamtes und anderer städtischer Verwaltungsstellen über den bisherigen Stand der Verhandlungen beraten. Sie sahen, vor allem für die Kindertagesstätten, die Schmerzgrenze erreicht. Viele Frauen plädierten für die Annahme des Kompromisses. 39 Stunden seien jetzt auch für die Neuen verbindlich, die aufgrund des von den Kommunen aufgekündigten Tarifvertrages bereits mit einer 40-Stunden-Woche eingestellt worden seien.
Trotz der Bereitschaft zur Einigung hatte sich eine große Mehrheit in den Streikversammlungen bereits Anfang der Woche dafür ausgesprochen, im Notfall weiterzustreiken, wenn auch nur noch einen Tag pro Woche.
Während die Demonstration am Mittag zum Rathaus zog, tagten die Verhandlungsdelegationen nach zweiwöchiger Funkstille wieder. Gewerkschaft wie Kommunen hatten Mitte März einen Schlichterspruch abgelehnt. Unter der Hand war zu erfahren, dass das Arbeitgeberlager gespalten sei. Die großen Städte seien bereits am Vortag zum Abschluss bereit gewesen seien, die Landräte hätten aber auf einer härteren Haltung beharrt und in einer Abstimmung obsiegt. Das, hatte Riexinger festgestellt, spiegele das Problem von Ver.di wider. Auf dem Land habe die Gewerkschaft einen zu geringen Organisationsgrad.
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