: Jenseits der Leistungsgesellschaft
FESTIVAL Im Bremer Schlachthof beginnt am Samstag das Explosive-Festival für junges Theater. Fast zwei Wochen lang soll die Gegenwart in den Blick genommen werden mit dem Ziel, Lebensentwürfe zu hinterfragen
Sechs junge Menschen sitzen in einer kleinen Wohnung und tun nichts. Nichts Produktives zumindest, nichts, was die Gesellschaft als sinnvoll erachtet. Plötzlich verpufft der Leistungszwang, verpufft das Drängen, das Erzwingen von Lebensentwürfen. Die Leistungsgesellschaft muss hier einem Raum weichen, in dem die Bremer Performance „Nichtstun“ Zeit bietet und Menschen aufeinandertreffen lässt.
Es sind diese Gegenentwürfe, die das am Samstag beginnende Explosive-Festival in Bremen so interessant machen. „Weltentwürfe. Aufbrechen“ lautet der herausfordernde Titel des diesjährigen Theater-Festivals, das im Schlachthof veranstaltet wird. Seitdem versucht das zu großen Teilen unbezahlte Team vor allem zwei Ansprüchen gerecht zu werden: Jung wollen sie sein und international.
„Junges Theater bedeutet für mich, junge Formen zu schaffen, die auch ein junges Publikum erreichen. Wir wollen fragen, was hat Relevanz für junge Menschen dieser Stadt.“ Tobias Pflug, der künstlerische Leiter, ist in diesem Jahr zum ersten Mal allein für die Veranstaltung verantwortlich. Hinter den alten Scheiben im Turm des Schlachthofes, vor denen graue Wolken das Dächermeer verdecken, versucht er in dem kleinen Büro seine Idee von jungem Theater umzusetzen. „Für mich ist Theater eine Möglichkeit, meine eigenen Weltentwürfe wie auch die Weltentwürfe anderer Leute sich begegnen zu lassen und einen Aufbruch zu schaffen.“ In der Performance „I See You“ beispielsweise tanzen drei Generationen auf der Bühne. Was also junges Theater bedeutet, muss noch ausgehandelt werden.
Das Explosive-Festival arbeitet sich an diesem Konzept in den verschiedenen Formen der Bühnendarstellung ab. Leichtfüßig bewegt sich das Programm zwischen modernem Tanz und dramatischem Theater, ohne sich festzulegen. Immer wieder wendet sich der Blick in die Gegenwart. In der belgischen Produktion „Michel Essien – I want to play as you“ thematisieren die nigerianischen Darsteller ihre Erlebnisse mit dem Menschenhandel im Fußball, die dänische Gruppe „Club de la Faye“ macht eine Performance, die in der zweiten Festivalwoche zusammen mit dem Publikum entworfen werden soll.
KünstlerInnen, deren Einsendung es nicht in die Endauswahl geschafft haben, bekommen als „Abgesandte“ eine explizite Einladung. Sie erhalten Unterkunft, Verpflegung und Freikarten für alle Vorführungen. „Vor zwei Jahren waren Künstlerinnen aus Thailand hier, die dann spontan noch eine Vorführung gemacht haben. Das war wirklich außergewöhnlich, das gibt es sonst so hier nicht.“
Den ZuschauerInnen sollen keine Häppchen serviert werden. „Wir sehen unser Stück als einen Prozess an, in dem jede Aufführung etwas verändert“, erklärt Elinor Bender von „Nichtstun“, „die Zuschauer sind immer Teil von dem, was zwischen den Schauspielern passiert.“ Es soll ein Dialog entstehen, in dem das Ergebnis nicht feststeht. Nicht nur die Aufführungen, sondern auch Veranstaltungen neben den Bühnen laden daher explizit zum Mitmachen und Mitgestalten ein.
Zwei Wochen lang wird Bremen zu einer Bühne, deren Mittelpunkt der Schlachthof ist. „Wir wollen uns Zeit nehmen, vom Leben zu lernen“, formuliert die Bremerin Julie Bender vorsichtig die Idee hinter „Nichtstun“, „und nicht ein Leben von außen aufgedrückt bekommen.“ Das Explosive-Festival ist ein bischen genau das, ein Atemholen, um vom Leben zu lernen und Weltentwürfe zu hinterfragen. PAUL-JONAS HILDEBRANDT
„Explosive“: 21. 9. bis 4. 10., Kulturzentrum Schlachthof, Bremen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen