TIM CASPAR BOEHME LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Wenn alle Kreter lügen
Der Philosoph Wolfgang Künne genießt unter Kollegen hohes Ansehen. Unter anderem ist der emeritierte Professor der Universität Hamburg ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und erster Träger des Frege-Preises der Gesellschaft für analytische Philosophie. Die Liste seiner Monografien hingegen ist übersichtlich. Vor Kurzem erschien mit „Epimenides und andere Lügner“ (Klostermann 2013) sein bisher fünftes Buch. Die FAZ nannte ihn denn auch schon mal in einem zweischneidigen Kompliment „einen der bedeutendsten wie der Öffentlichkeit unbekanntesten deutschen Philosophen der Gegenwart“.
Dass Künne außerhalb der akademischen Fachwelt praktisch nicht wahrgenommen wird, liegt nicht allein an der Anzahl seiner Publikationen. Er ist auch kein öffentlicher Intellektueller, der sich zu gesellschaftlichen Fragen in Feuilletons äußert. Philosophie ist bei ihm begriffliche Grundlagenforschung, deren mitunter stark technische Darstellungsform ohne Vorkenntnisse nur schwer zugänglich ist. Dabei sind die Fragestellungen, mit denen Künne sich in seinem neuesten Buch beschäftigt, keinesfalls kryptisch. Der Satz „Epimenides, der Kreter, sagt, dass alle Kreter Lügner sind“ wird gern als Beispiel für Paradoxien gewählt – denn wenn Epimenides in seiner Eigenschaft als Kreter diesen Satz sagt, lügt er dann nicht selbst?
Künne nimmt sich der Frage mit größter philologischer Sorgfalt und dem Zeichenarsenal der formalen Logik an, um schließlich Entwarnung zu geben: Hier liegt gar keine Paradoxie vor. Es sei denn, man liest den Satz über die Kreter so, dass alle Kreter immer lügen, wenn sie etwas sagen. Das werde aber gar nicht zwingend mit dem Satz behauptet, denn „auch ein notorischer Lügner sagt ja gelegentlich etwas Wahres“.
Die logischen Probleme hätten „Philosophen des 20. Jahrhunderts, die Paradoxien sammeln, auf diese Stelle projiziert“. Der Kirchenvater Hieronymus etwa habe den Text viel besser verstanden als die Logiker des 20. Jahrhunderts – womit Künne allemal einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen sprachanalytischen Tradition zu erkennen gibt.
■ Der Autor ist ständiger Mitarbeiter der taz-Kulturredaktion Foto: privat
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