piwik no script img

Manchmal so bockig wie seine Schäfchen

Seit über 20 Jahren ist Helmut Biermann Schäfer, einer der jüngsten in Brandenburg. Der 38-Jährige liebt seinen Beruf, der „manchmal sogar romantisch ist“. Vor Ostern herrscht auf seinem Hof Hochbetrieb: Mit Lämmern verdient er das meiste Geld

VON THOMAS JOERDENS

Mensch, bist du ein sturer Lumpi“, ruft Helmut Biermann halb sauer, halb amüsiert und zieht an einem Seil. Am anderen Ende hängt ein blökender Schafbock, der sich gegen den Spaziergang stemmt. Das 115 Kilo schwere Tier mit der dicken Wolle auf den Rippen hat viel Kraft und einen Dickkopf. Darin ähnelt es Helmut Biermann, der seinen schließlich durchsetzt. Nach einer fünfzehnminütigen Runde im Freien führt Helmut Biermann das Tier wieder zurück in den Stall.

Helmut Biermann ist Schäfer. Seit über 20 Jahren. Und der kurze Ausflug gehört zu seinem Job. Das 15 Monate alte Tier muss sich ans Gehen am Seil gewöhnen, weil es auf einer Auktion als Zuchtbock versteigert werden soll. Wenn sich das Schaf bei der so genannten Bock-Elite genauso widerstrebend anstellt wie auf der Wiese, kann Helmut Biermann die 600 Euro vergessen, die ein Zuchttier normalerweise bringt. Das wäre schade für den Schäfer und nebenberuflichen Züchter aus Berge, einem 650-Einwohner-Dorf bei Nauen, 50 Kilometer westlich von Berlin.

Sein Geld verdient Helmut Biermann vor allem jetzt in der Vorosterzeit mit Lämmern und deren Fleisch. Etwa 300 dieser schnuckeligen Minimerinos haben die 220 Mutterschafe seit November geworfen. Bis auf knapp 40 Jungtiere verkauft der Schäfer seit März alle anderen. Lebend – oder bereits passend portioniert für die Tiefkühltruhe.

Helmut Biermann unterhält in Brandenburg, wo es noch über 500 Schafhalter gibt, die einzige verbliebene größere Herde mit Merino-Fleischschafen. Die Tiere hatten vor der Wende das Bild der DDR geprägt wie die Trabis. Die Merino-Fleischschafe ähneln den Merino-Landschafen. Sie sind aber mit gut 60 Kilo nicht ganz so wuchtig wie ihre zwei Zentner schweren und in Westdeutschland stark verbreiteten Schwestern, die sich in der Mark durchgesetzt haben.

82 Cent für ein Kilo Wolle

Zu DDR-Zeiten gab es eine weitere Erwerbsquelle für die Schäfereien. „Da brachte die Wolle richtig Geld“, erinnert sich Biermann. 56 Ostmark für das Kilo. Heute kassiert er 82 Cent für dieselbe Menge. Da erscheint das jährliche Scheren als lästige Pflichtübung. Macht nichts. Helmut Biermann ist mit Leib und Seele Schäfer. Er wollte nie etwas anderes sein, nachdem ihm sein Vater 1975 zwei tragende Merino-Fleischschafe geschenkt hatte. Helmut war sieben Jahre alt, als er sein Herz an die flauschigen Viecher verlor und eine kleine Herde züchtete.

Keine zehn Jahre später verwandelte der Fleischersohn sein Hobby in einen Beruf. Er absolvierte auf dem benachbarten Volksgut eine Ausbildung, anschließend kümmerte er sich als Lohnschäfer um 420 Mutterschafe. Damit hatte Helmut Biermann auch schon das Ende der Karriereleiter erreicht. An Selbstständigkeit war nicht zu denken, und seinen Meister durfte der Jungschäfer nicht nachlegen, weil er den Wehrdienst verweigert hatte. Er wundert sich im Nachhinein, dass er überhaupt die Lehre machen durfte.

„Es kam ganz gut so, wie’s gekommen ist“, sagt Helmut Biermann und meint die Wende 1989. Der niederländische Käufer des Volksguts löste die Schäferei Anfang der 90er-Jahre auf und bot sie dem arbeitslos gewordenen Schäfer zum Kauf an. Der lieh sich bei Verwandten und der Bank insgesamt 120.000 Mark, legte als eigenständiger Schäfer los und hatte 1994 seinen Meisterbrief in der Tasche. „Nee, ich hab da nicht drüber nachgedacht, ob ich das machen soll – sonst hätt ich das nicht gemacht“, erläutert der 38-Jährige seinen beherzten Sprung ins Unternehmertum. Allerdings kam für den lakonischen Landmann auch gar nichts anderes in Frage: Er richtet sein Leben ausschließlich nach dem Lustprinzip aus. Und Sturkopf Biermann hat nun mal nur Bock auf Schafe. „Die Tiere müssen täglich gefüttert werden. Das ist der einzige Grund, der mich jeden Morgen motiviert, aufzustehen. Sonst würde ich liegen bleiben. Denn im Grunde bin ich faul“, gesteht der Schäfer, der zwar viel redet, aber ungern etwas von sich preisgibt. Und wenn, weiß man nicht genau, wie er’s meint. Jedenfalls verzieht er bei seiner Selbsteinschätzung keine Miene und blickt ernst aus seinen klaren blauen Augen.

Bei aller vorgeschützten Undurchsichtigkeit kann man Helmut Biermann getrost unterstellen, dass ihm sein Job mit den Tieren nicht lediglich als morgendliche Aufstehhilfe dient, sondern Berufung ist. Wenn er durch den Stall geht, begrüßt er die mähenden Merinos mit „Na, Jungs, alles klar?“ oder anderen launigen Sprüchen. Die süßen Lämmer nennt er „Schlümpfe“ und krault sie liebevoll. Der Schäfer spricht mit seinen Hunden, der achtjährigen Bessy-Bonge sowie deren zweijähriger Tochter Foxy, und schaut regelmäßig bei den Hähnen, Hühnern, Gänsen vorbei, die wegen der Vogelgrippe zwangsweise zu zeternden Stubenhockern werden mussten. „Ich unterscheide nicht zwischen Arbeits- und Freizeit. Das ist für mich das Gleiche.“

Die Schäferei Biermann würde nicht funktionieren, wenn der Schäfer keine Unterstützung hätte. Dazu gehören seine Eltern, mit denen der Sohn in dem 250 Jahre alten Haus lebt und die unter anderem die Schlachterarbeiten, die Buchhaltung und den Haushalt besorgen. Außerdem hat Helmut Biermann immer zwei, drei Helfer am Hof, die im fußläufigen Stall und auf den 50 Hektar Grünland zur Hand gehen, sowie einen Lehrling. Im Juni müssen sowieso alle ran, wenn Ernte und Deckzeit zusammenfallen, oder gegen Ende des Jahres, wenn die Lämmer geboren werden. Als Einzelkämpfer würde Helmut Biermann untergehen, ahnt er. Doch mit der Familie im Rücken kann sich der Schäfer sogar eine Woche Urlaub in Rumänien im Jahr erlauben.

Nachwuchs nicht in Sicht

Der Betrieb ist seit vier Jahren schuldenfrei und trägt sich. Der Landwirt wirkt zufrieden. Auch wenn er gerne mal über die Agrarpolitik der Europäischen Union schimpft, die Brandenburg zur Ackerlandregion erklärt hat und Schafe nicht fördert. Wegen der fehlenden Fördermittel gäbe es in der Mark kaum noch Jobs für Lohnschäfer. Pflegeverträge mit den zuständigen Ministerien für die Beweidung von Landschaftsschutzgebieten oder Deichen seien ebenfalls rückläufig. Und wer sich wie Helmut Biermann in der Fleischvermarktung selbstständig machen will, braucht Startkapital. „Auf den Bock-Auktionen bin ich seit Jahren der jüngste Schäfer. Nachwuchs ist nicht in Sicht“, bedauert Helmut Biermann, ohne sich darüber zu wundern.

Kann also gut sein, dass Helmut Biermann auch künftig im Herbst und Winter als einziger Schäfer in Brandenburg mit einer Herde Merino-Fleischschafe und zwei Hütehunden über die Nauener Platte wandert. Er liebt diese sieben, acht Kilometer langen Tagesmärsche. Wenn der Mann in der traditionellen Schäferkluft mit Hut, Mantel, Stock und Bandeliertasche seinen Tieren beim Weiden zuschaut und den Blick schweifen lässt, weiß er, dass er sich für einen Beruf entschieden hat, der Spaß macht und „manchmal sogar romantisch ist“. Helmut Biermann will bis zum Jahr 2072 Schafe hüten und mit 104 dann tot umfallen. Mal sehen, ob er seinem Dickkopf wieder durchsetzt.

Mehr über Schafe im Internet: www.schafzuchtverband-berlin-brandenburg.de , www.schafe.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen