: Leise kommt das Unheil
GENREKINO In „Prisoners“ von Denis Villeneuve verschwinden zwei Kinder. Die Puzzleteile ihrer Entführung werden mit Noir-Optik ausgelegt und sind nuancenreich inszeniert
VON DOMINIK KAMALZADEH
Das Unheil kommt leise über die beiden benachbarten Familien. Es ist eine friedliche Straße, irgendwo in einer Vorstadt, gesäumt von Einfamilienhäusern, die alle ähnlich aussehen. Draußen ist es trüb herbstlich, im Inneren der Zimmer herrscht Ausgelassenheit. Man feiert gemeinsam Thanksgiving, die befreundeten Kinder erkunden die Umgebung.
Ein paar Stunden später sind die beiden Mädchen Anna und Joy spurlos verschwunden. Außer einem Camper, der kurz in der Straße parkte, fehlen alle Spuren. Ganz langsam fährt die Kamera an einen Baumstamm vor dem Haus heran – ein erstes, unheimliches Bild dafür, dass in „Prisoners“, dem ersten Hollywood-Thriller des Frankokanadiers Denis Villeneuve, kaum Durchblick möglich ist, und ein jeder, der mit dem Fall in Berührung kommt, buchstäblich ein Brett vor dem Kopf hat.
Verwandlung Betroffener
Aaron Guzikowskis Drehbuch setzt das Movens der Handlung klugerweise weniger auf die Frage nach der Täterschaft. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, wie ein Verbrechen die Betroffenen verwandelt; wie es sich flechtenartig über eine Gemeinschaft auszubreiten vermag und dabei auch ideologische Überzeugungen nach außen treibt, die sich so schädlich wie Ungeziefer erweisen.
Die direkteste und gerade deshalb auch schwierigste Figur ist Keller Dover, der von Hugh Jackman mit gehörigem Druck verkörperte Vater eines der Entführungsopfer. In einem frühen Schachzug ergreift er, enttäuscht von der Langsamkeit der Polizei, selbst die Initiative. Er entführt den einzigen Verdächtigen, Alex Jones (Paul Dano), einen psychisch labilen, jungen Mann, um ihm in einem Versteck ein Geständnis abzupressen. Dabei bedient er sich zunehmend brutaler Foltermethoden. Es ist dies ein fast schon überdeutliches Zeichen für die Verwandlung des Opfers zum Täter, wie sie die USA nach 9/11 als ganze Nation erfahren hat.
Dass „Prisoners“ dennoch nicht ins Plakative abgleitet, liegt an der nuancierten, im entscheidenden Moment sparsam dosierten Inszenierungsweise Villeneuves. Nicht der wütende Vater, auch nicht die in Trauer erstickende Mutter (Maria Bello) stehen hier im Mittelpunkt; der Film buhlt nicht um Mitleid, sondern fächert die Perspektiven auf. Er findet eine Reihe dunkler Korridore – Kellerabteile wie bizarre Wohnungsverstecke –, in denen immer wieder neue Indizien entdeckt werden.
Auch der von Jake Gyllenhaal als neurotisch zwinkernder Einzelgänger verkörperte Detective Loki findet lange keine richtigen Zugriff auf den Fall. In kritischen Momenten begeht er Fehler, die die Auflösung weiter verzögern – dies ist nicht der einzige Aspekt des Films, der an David Finchers Serienmörder-Suchspiel „Zodiac“ denken lässt.
Anders als Fincher ist Villeneuve, der mit dem Nahost-Drama „Incendies“ Bekanntheit erlangte, mehr an dem Milieu interessiert, an dem konservativ-gottesfürchtigen Boden der Gemeinde, in der Kindesentführungen besonderen Nachhall erzeugen. Mit Roger Deakins steht ihm ein Kameramann zur Seite, welcher der Ambivalenz aus Trauer und Bedrohung mit einer trüben Noir-Optik aus hochauflösenden, aber matschig grauen Bildern Ausdruck verleiht.
„Prisoners“ entspricht jener Form des ernsthaften, anspruchsvollen Genrefilms, der im Hollywood der Gegenwart mittlerweile zur Rarität geworden ist. Er riskiert im Erzählerischen etwas, gräbt tiefer als andere und nimmt sich die Zeit, die Puzzleteile des Entführungsfalles so auszulegen, dass die emotionalen Reaktionen der Figuren auch plausibel wirken. Das Drehbuch mag stellenweise ein wenig überkonstruiert erscheinen. Doch „Prisoners“ überspielt diese kleinen Irritationen mit einem kontrollierten Blick auf das Wesentliche: Er schafft so viele Feinabstufungen, dass die Frage nach Gut und Böse ganz schwer zu beantworten ist.
■ „Prisoners“. Regie: Denis Villeneuve. Mit Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal u. a. USA 2013, 146 Min.
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