: „Draußen wird man dafür weggefangen“
INTERVIEW: LUTZ DEBUS
taz: Frau Artkamp, Herr Kerklau, sind Sie eher psychiatrisch oder künstlerisch tätig?
Manfred Kerklau: Wir arbeiten nicht therapeutisch. Wir machen Kunst. Es ist nur so, dass die Menschen, mit denen wir arbeiten, Grenzerfahrungen erlebten, viele schon einmal psychiatrisch behandelt worden sind. Es sind aber auch Leute dabei, die diese Art von Theaterarbeit spannend finden, selbst aber keine Psychiatrieerfahrung haben. Es ist ganz bewusst ein gemischtes Projekt. Wir wollten nicht noch eine Insel für psychisch Kranke schaffen. Das Hauptgewicht liegt auf der Kunst.
Nehmen Sie psychisch Kranke als Schauspieler, weil die besser schauspielern?
Paula Artkamp: Besser? Da sind wir ja gleich bei der Bewertung. Als Schauspieler kann man ja nur aus der eigenen Erfahrungswelt schöpfen. So gesehen hat ein Psychiatrieerfahrener durchaus ein anderes Potenzial, das er nutzen kann. Er kann eine Rolle anders füllen. Schauspieler probieren ja ständig, der Wirklichkeit enthoben zu sein. Aber mit den entsprechenden Erfahrungen ist die Darstellung eben doch eine andere.
Klaus Kinski konnte besser spielen als Uschi Glas?
Artkamp: Kinski war auch ein Grenzgänger.
Den hätten Sie genommen?
Artkamp: Nee, das wär zu anstrengend gewesen.
Kerklau: Wir arbeiten mit der Gruppe. Es gibt wenige Soloparts. Die Mitwirkenden stützen sich sehr auf der Bühne. Es gibt Rückmeldungen von Ersatzspielern aus freien Theatergruppen, die spielen gern mit uns, weil es bei uns eine tolle Atmosphäre gibt. Es gibt nicht diese Rampensäue.
Warum?
Kerklau: Unsere Schauspieler haben teilweise im Leben viel Leid erfahren. Wenn andere Schwierigkeiten haben, wird das nicht so schnell abgekanzelt.
Emotionalität darstellen unter der Wirkung von Haldol. Geht das?
Artkamp: Beeindruckend bei den Produktionen ist die Authentizität, die bei den Schauspielern rüberkommt. Es gibt ja schon Einschränkungen von den Möglichkeiten her. Was das Sprechen, die Bewegung oder die Konzentrationsfähigkeit angeht. Nicht nur durch die Erkrankung, sondern auch durch die Medikamente. Das ist schon extrem. Man verfügt über ein begrenztes Ausdruckspotenzial. Wie man von der Wahrhaftigkeit eines alten Schauspielers sprechen kann, der nur eine Möglichkeit hat, sich die Schuhe zuzubinden und nicht wie ein junger Schauspieler tausend Angebote machen kann, so gibt es auch bei unseren Leuten eine andere Authentizität. Das kommt auch rüber.
Wie kann ich auf der Bühne schreien, weinen, wenn ich das als psychisch Kranker sonst nicht darf?
Artkamp: Wenn man mal in der Wahnsinnswelt war, später auf Grund von Behandlung wieder in die normale Welt kommt, versucht man, noch normaler zu sein. Und da gibt es bei uns bei den Proben noch eine andere Chance. Auf der Bühne darf man so sein, auf der Straße wird man dafür weggefangen?
Kerklau: Genau.
Wenn es jemandem bei den Proben nicht so gut geht, was ist dann? Achten Sie auf den Gesundheitszustand ihrer Schauspieler?
Artkamp: So weit wir können. Aber wir sagen auch, dass die Menschen selbst beurteilen können, was ihnen gut tut.
Theater ist eine behauptete Welt. Psychisch Kranke leben zuweilen auch in einer solchen: Ist das nicht gefährlich – auf einmal muss ich spielen, was ich als Krankheit erlebt habe.
Artkamp: Nein, dass kann man nicht spielen, was man als Krankheit erlebt hat. Jeder hat seine eigene Psychose und Theater ist etwas ganz anderes.
Das sieht die medizinische Fachwelt auch so?
Artkamp: Als wir anfingen, gab es viel Zurückhaltung, auch Abwehr. Man glaubte, dass es für psychoseerfahrene Menschen nicht gut sei, Phantasieräume zu öffnen. Das wäre psychosefördernd. Das hat sich geändert. Inzwischen empfehlen psychiatrische Praxen ihren Patienten, bei uns anzufragen, ob sie nicht mitspielen können. Mit sehr viel Freude sitzen Behandelnde im Zuschauerraum und sehen plötzlich, wie gesund ihre Patienten sein können.
Auf der Bühne zu stehen, die eigene Person öffentlich zu machen, ist doch sicher für Ihre Schauspieler eine große Herausforderung. Gibt es da Lampenfieber?
Artkamp: Gestern hatte ich ein Gespräch mit unserem Darsteller Johannes Bayer. Der erzählte, dass er erst in den letzten zwei Jahren Lampenfieber entwickelt hat. Er meint, dass er eine größere Sensibilität entwickelt hat.
Kerklau: Es ist völlig normal, dass vor den Premieren ein Toilettengerenne ist.
Sie leiten sowohl das Theater Sycorax und nun auch das Festival Madness & Arts. Dabei haben Sie durchaus unterschiedliche Professionen...
Paula Artkamp: Ich bin Schauspielerin und Regisseurin.
Kerklau: Und ich habe das Psychologiestudium abgeschlossen, aber eigentlich nie in dem Bereich gearbeitet. In Münster habe ich das „Theater am Pumpenhaus“ mit aufgebaut, da gespielt und Regie gemacht. Im pädagogischen Bereich habe ich Sonderschullehrer mit ihren Theatergruppen gecoacht.
Sycorax gibt es seit zehn Jahren. Sie arbeiten mit wechselnden Besetzungen?
Artkamp: Ja, da legen wir auch großen Wert drauf. Ich kenne es aus der Arbeit als Schauspielerin: Wenn man mit immer den gleichen Leuten arbeitet, wird das Schubladendenken größer. Es ist dann zwar ganz nett in der Gruppe, aber es wird zu gemütlich. Deshalb suchen wir zu Beginn eines neuen Projektes neue Leute. In dieser Produktion sind drei von 13 Schauspielern neu. Nur ein Mitwirkender – Johannes Bayer – ist bisher bei allen Produktionen dabei gewesen.
Wenn die Leute auf der Bühne stehen, outen die sich ja auch. Tut das gut?
Artkamp: Bei Sycorax ist es wichtig, dass es nicht institutionsgebunden ist. Wenn man erkrankt ist, bleibt man ja in bestimmten Kreisen, Hilfssystemen. Im Unterschied dazu geht Sycorax raus. Sycorax ist normal.
Wie ist es dazu gekommen, dass „Madness & Arts“ nach Münster kommt?
Kerklau: 2003 gab es in Toronto das erste „madness & arts“-Festival. Das war das erste Festival dieser Art, ein großer Erfolg. Das Theater Sycorax war mit der Produktion Woyzeck eingeladen. Die Festivalleiterin Lisa Brown hat sich gewünscht, dass das Festival um die Welt wandert. Und da kam die Idee auf, dass wir das in Münster machen.
Gab es Theatergruppen, die Sie zum Festival nicht eingeladen haben?
Kerklau: Ich finde es schrecklich, wenn bei Produktionen die ganze Zeit professionelle Schauspieler im Vordergrund stehen und im Hintergrund laufen ein paar psychisch Kranke rum. Ich möchte auch keine psychisch kranken Menschen als Ausstellungsstücke auf der Bühne. Das berührt mich ganz unangenehm. Wir wählen die Gruppen aus, in denen die Leute auf der Bühne durch ihre Arbeit überzeugen. Und das gespielte Stück sollte immer einen Bezug zur Psychiatrie haben.
Warum?
Kerklau: So ein dramatischer Stoff wie „Woyzeck“ ist anerkannte Literatur. Da interessiert sich auch ein bürgerliches Publikum plötzlich für psychische Erkrankungen. In der Literatur gibt es ja ganz viele Fälle, in denen sich Menschen an den Grenzen zum Wahnsinn bewegen. Und in der Literatur wird das akzeptiert.
Artkamp: Bei allen Stücken des Festivals geht es um das Thema „Normalität oder Wahnsinn“. Viele Stücke sind von den Theatergruppen auch selbst gebaut.
Aus Triest ist die „Accademia della Follia“ zu sehen. Und dort fing vor 40 Jahren ja alles an: Wir öffnen die Anstalten, wir lassen die Patienten raus und schließen die Anstalten ... Gibt es eine Verzahnung zwischen den Theatergruppen von Madness & Arts und der Antipsychiatriebewegung?
Kerklau: Der Leiter der Theatergruppe, Claudio Misculin, war früher selbst Psychiatriepatient. Auf dem ehemaligen Gelände der Anstalt hat die Gruppe heute ihre Proberäume. Der jetzige Klinikchef erkennt die Arbeit der Theatergruppe sehr an. Der sagt, der einzig wirkliche Therapeut hier ist der Claudio.
Es gibt inzwischen eine global handelnde Pharmaindustrie. Gibt es demnächst auch eine globalisiert agierende Theaterszene von Psychiatriebetroffenen?
Artkamp: Das wären schöne Aussichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen