: „Ein scheinbares Signal der Milde und Vernunft“
RUSSLAND Das neue Urteil über Alexei Nawalny soll ihn politisch kaltstellen, glaubt Marieluise Beck. Sie traut dem Kreml nicht
■ Die 61-Jährige ist seit 1980 Mitglied der Grünen, Mitglied des Bundestags und Sprecherin für Osteuropapolitik ihrer Partei, seit 2005 Mitglied des Auswärtigen Ausschusses mit den Schwerpunkten Ost- und Südosteuropa.
taz: Frau Beck, die Haftstrafe für Alexei Nawalny wurde in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Wie bewerten Sie den jüngsten Urteilsspruch?
Marieluise Beck: Das Urteil ist für mich ein Zeichen dafür, dass es der Kreml im Augenblick nicht für opportun hält, weitere negative Schlagzeilen zu erzeugen. Nach dem Motto „Wir wägen ab, womit wir uns Ärger einhandeln“. Und deshalb wurde jetzt ein scheinbares Signal der Milde und Vernunft an die internationale Öffentlichkeit ausgesendet. Das ändert nichts daran, dass Nawalny politisch kaltgestellt ist.
Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin hat gesagt, der Präsident habe mit dem Urteil nichts zu tun. Entscheiden Gerichte in Russland plötzlich unabhängig?
Das glaube ich nicht. Es ist allerdings schwer, zu beweisen, dass der Kreml das Telefon in die Hand genommen und den Richter angerufen hat. Erinnern wir uns an den Fall Chodorkowski. Dort wurde auch behauptet, dass der Richter Recht gesprochen hätte. Eine Justizangestellte hat dann aber bezeugt, dass der Richter Direktiven der oberen Justizinstanzen entgegengenommen hatte.
Das Verfassungsgericht hat in der vergangenen Woche entschieden, dass jemandem, der vorbestraft ist, nicht dauerhaft das passive Wahlrecht aberkannt werden kann. Eine Chance für Nawalny?
Formal gesehen, ja. Das Problem in Russland ist aber nicht das Gesetz an sich, sondern dessen Anwendung. Deshalb beruhigt mich das Urteil des Verfassungsgerichts in keiner Weise.
Am 20. Jahrestag der russischen Verfassung, dem 12. Dezember, soll eine Amnestie verkündet werden. Werden auch Oppositionelle unter den Erlass fallen?
Ich fände es gut, wenn aus diesen furchtbaren Lagern, die es in Russland nach wie vor in großer Anzahl gibt, möglichst viele Strafgefangene entlassen würden. Ob die Amnestie jedoch auch Freiheit für diejenigen bedeutet, die aus politischen Gründen verurteilt wurden, da bin ich skeptisch. Das wird von der Kalkulation des Kreml abhängen, nach dem Motto „Was nützt uns mehr oder was schadet uns mehr?“. Die Beantwortung dieser Frage hat allerdings auch viel mit dem Westen zu tun.
Inwiefern?
■ Der Mann: der 37-jährige Blogger und Rechtsanwalt gilt als Hoffnungsträger der zersplitterten Opposition gegen Putin. Der Korruptionskritiker kann sowohl Massen mobilisieren als auch den Einfluss der Nationalisten beschränken. Im September erreichte er überraschend 27 Prozent bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau.
■ Der Vorwurf: 2009 soll er als Berater des Gouverneurs eine staatliche Holzfirma um Bauholz im Wert von 400.000 Euro geprellt haben. Er weist die Vorwürfe als politische Inszenierung des Kreml zurück.
■ Der Prozess: Im Juli 2013 wurde Nawalny dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ein Berufungsgericht hat dieses Urteil nun zur Bewährung ausgesetzt. Er bleibt damit zwar in Freiheit, ist jedoch nach aktuellem Stand aufgrund seiner Verurteilung von politischen Wahlämtern ausgeschlossen.
Im Februar 2014 finden die Olympischen Winterspiele in Sotschi statt. Deshalb haben wir gerade jetzt die Verpflichtung, auch die politischen Begleitumstände, unter denen dieses Ereignis in Russland stattfindet, in den Blick zu nehmen und deutlich auf die massiven Repressionen hinzuweisen. Meine Sorge ist, dass sich Putin nach Sotschi noch freier fühlen wird, repressiv gegen die Opposition vorzugehen, als er das jetzt schon tut.
INTERVIEW: BARBARA OERTEL
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