: Vorreiter in Fragen der Transparenz
GESANGSKUNST Der vor 65 Jahren gegründete RIAS Kammerchor hat weltweit Maßstäbe für einen neuen Chorklang gesetzt. Das hört man nun auch in seiner Aufnahme von Bachs „Matthäus-Passion“
VON TIM CASPAR BOEHME
Sparsamkeit kann manchmal zu überraschenden künstlerischen Lösungen führen. Zwar sollte man diesen Satz besser nicht zur Maßgabe in der Kulturpolitik machen, zumindest in einem Fall trifft er aber zu: Als im Jahr 1948 der Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) beschloss, sich einen Chor zuzulegen, entschied man sich – anders als etwa beim traditionsreichen Rundfunkchor Berlin mit seinen 64 fest angestellten Mitgliedern – für gerade mal 35 Sänger. Seine eher bescheidene Größe hat der so entstandene RIAS Kammerchor bis heute beibehalten – ein Glücksfall, wie sich herausstellen sollte.
Die schlanke Besetzung führte zu einem Bruch mit der Chortradition, die seit der Romantik in Deutschland vorherrschend war – hier galt oft das Prinzip Überwältigung durch Masse. Insbesondere Uwe Gronostay, der den Chor von 1972 bis 1986 leitete, setzte stattdessen auf Homogenität und Transparenz. Sein Beispiel machte Schule und prägt seither den Klang des RIAS Kammerchors: „Der Chor war Vorreiter in der Frage des modernen Chorklangs“, so Chefdirigent Hans-Christoph Rademann. „Das heutige Chorklang-Ideal ist vollkommen verschieden von dem vor vierzig Jahren. Solche Ansprüche an Homogenität und Intonation wie in der heutigen Zeit gab es damals noch nicht.“
Bei den Besten der Welt
Rademann ist seit 2007 Leiter des Chors, der im Jahr 2010 vom britischen Musikmagazin Gramophone unter die zehn besten Berufschöre der Welt gewählt wurde. Grund genug für Rademann, stolz auf sein Ensemble zu sein, für das er zugleich eine große Verantwortung empfindet: „Der Klang dieses Chors, wie er jetzt ist, ist für mich ein ganz wertvolles Kulturgut, das gehegt und gepflegt werden muss.“
Einen beeindruckenden Beleg dafür bietet die soeben erschienene Einspielung der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von René Jacobs, einem ausgewiesenen Experten für historische Aufführungspraxis. Die komplexe Mehrstimmigkeit Bachs – der Chor ist hier zudem zweigeteilt – wird so klar wiedergegeben, dass man die einzelnen Stimmen mühelos heraushören kann. Der Chor singt fast wie ein weiterer Solist, so beweglich ist er in Ausdruck und Dynamik.
Unter den mittlerweile zahlreichen Aufnahmen von Bachs Passion ist diese Interpretation die erste, die die beiden Chöre deutlich hörbar voneinander trennt. Jacobs beruft sich dabei auf den Bach-Forscher Konrad Küster und dessen These, Bach habe seinerzeit die Chöre in der Leipziger Thomaskirche auf gegenüberliegende Emporen verteilt. Entsprechend hört man einen „Hauptchor“ aus der Nähe und – mit vernehmlichem Abstand – einen „Fernchor“, zu dem auch einige der Solisten gestellt wurden.
Die Aufteilung ist inhaltlich begründet: Der Hauptchor ist mit seinen Texten direkt am Geschehen beteiligt, während der Fernchor die Ereignisse aus der Distanz und oft mit einem Gefühl von Ohnmacht kommentiert. Allerdings führt diese Lösung auch dazu, dass die Arien aus dem Fernchor-Ensemble gelegentlich leicht verhallt klingen.
Offen für Experimente
Neben der Pflege von Repertoirewerken besteht eine wichtige Aufgabe des Chors im Erarbeiten von neuen Werken. Darunter gibt es schon mal unkonventionelle Experimente: Ende September erst sang der Chor im Stattbad Wedding die Uraufführung eines Werks des Komponisten und Jazzmusikers Johannes Lauer für Chor und Jazz-Quartett.
Rademann hebt in diesem Zusammenhang einen Vorzug des Chors gegenüber Instrumentalmusikern hervor: „Ein Chor kann eine Haltung rüberbringen und einen Text transportieren, der mitunter auch eine gewisse Brisanz hat.“ So war eines der Projekte, das dem in Dresden geborene Rademann besonders „unter die Haut“ ging, das Auftragswerk „Hinter der Mauer“ des palästinensisch-israelischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi, das vor drei Jahren zum Gedenken an den Mauerfall aufgeführt wurde.
Zum Bildungsauftrag des Chors gehört überdies die Arbeit mit Jugendlichen. So gibt es langfristige Kooperationen mit Schulchören, mit denen einzelne Sänger stimmtechnisch proben. Später tritt der Chor dann gemeinsam mit den Jugendlichen im Konzert auf. Ein sehr direkter Weg, um zukünftige Hörergenerationen für Chormusik zu begeistern. Denn obwohl der Chor zu den besten der Welt zählt, bekommt er in Berlin nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie die Berliner Philharmoniker. „Der Chor steht eben im Schatten des Orchesters“, so Rademann. Das müsse er einfach akzeptieren. Wirklich verstehen könne er es aber nicht: „Die menschliche Stimme ist das tollste Instrument, das wir überhaupt haben, und in ihrem Farbenreichtum eigentlich unerschöpflich.“
■ Jüngste Veröffentlichung des RIAS Kammerchors (mit der Akademie für Alte Musik) bei Harmonia Mundi France: Johann Sebastian Bach: „Matthäus-Passion“, Dirigent: René Jacobs
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen