: Innere Navigation
SOUL-BEATBOX Techno, Musique concrète, Funk, Soul oder R’n’B: Der britische Sänger und Komponist Jamie Lidell schaut gern mal über den musikalischen Tellerrand
VON ROBERT MATTHIES
Jamie Lidell schaut gern mal über den musikalischen Tellerrand, packt seinen beachtlichen Mut und seine technische Finesse ein und macht sich neugierig auf, das nächste Genre zu erforschen. Respektive alle bisherigen Grenzziehungen zu unterlaufen.
„Freekin’ The Frame“ hieß 1997 die erste rahmenverunsichernde EP des 37-jährigen Briten, und der Titel ist bis heute programmatisch: Irgendwie im Chicago House verwurzelt, präsentierte Lidell diszipliniert respektlosen und unvorhersehbaren minimalen akustischen Kubismus, der die Entschlossenheit deutlich machte, mit der der Philosophiestudent sich in neue Richtungen aufzumachen gedachte.
Da hatte der chilenische DJ und Klangfrickler Cristian Vogel längst mit der Techno-Szene abgeschlossen. Nach mehreren EPs auf dem renommierten „Mille Plateaux“-Label kam sein enttäuschtes Resumee: „All Music has come to an end.“
Der Beginn indes der Freundschaft und Zusammenarbeit mit Jamie Lidell, dessen exaltierte Live-Performance als drittes Mitglied der Techno-Ungestüme vom „Subhead“-Label Vogel in Brighton erlebt hatte.
Als „Super_Collider“ veröffentlichten die beiden 1999 und 2002 mit „Head On“ und „Raw Digits“ ihre viel beachteten klanglichen Manifeste: Ersteres mit einem bis dato ungehörten Gemisch aus Techno, Funk und Lidells überspanntem Soul-Gesang, als hätte man Terence Trent D’Arby einen Monat mit „Autechre“ im Studio eingeschlossen. Letzteres hängte allerhand im Verlauf eines Jahres in Brighton, Berlin und Barcelona aufgezeichnete Klangschnipsel in ein dicht-komplexes Para-R’n’B-Gerüst ein, das man versucht hat, als „digitalen P-Funk“ zu verstehen.
2000 veröffentlichte Lidell schließlich sein erstes Album, „Muddlin Gear“, ein wüstes Gesamtkunstwerk, deutlich beeinflusst von der Musique concrète und elektronischen Musik der 50er und 60er, zu der sich Marvin Gaye, John Coltrane oder Sun Ra gesellen.
Fünf Jahre lang herrschte dann Funkstille. Zeit, die Lidell genutzt hat, um sich auf seine Stimme zu besinnen: Schneller kann man seine Einfälle einfach nicht umsetzen.
Live mutierte Lidell mit seinen Effektgeräten zur gefeierten One-Man-Impro-Beat-Box-Show, „Multiply“ hieß das entsprechende Album, das 2005 erscheint und Lidell endgültig als Souldiva empfiehlt: mehrfach gesampelter und geloopter Gesang, der sich hinter Stevie Wonder nicht verstecken muss, dazu satte Funkbassläufe und sogar ergreifende Engtanzschmonzetten. Vor drei Jahren ging es mit „JIM“ sogar noch tiefer in die 60er: Rock’n’Roll, Gospelchöre, Ohrwürmer.
Mit seinem vierten Album „Compass“ reißt Lidell nun das Ruder erneut herum und gibt sich wieder experimentierfreudiger. Mit prominenten Gästen wie Beck, Feist oder Chris Taylor von „Grizzly Bear“ führt Lidell einmal quer durch die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Beatboxende Manie, verfremdete Stimmen, die mit knarzenden Orgeln zu Vocoder-Bassläufen amalgamieren, kitschiger Schmusesoul, Fuzz-Gitarren-bewehrter Soul-Blues, psychedelische Ausflüge und ein Ende in weißem Rauschen – ohne sich je im Eklektizismus zu verlieren.
Heute lässt Lidell den Kompass im Knust kreisen.
■ Sa, 8. 5., 21 Uhr, Knust, Neuer Kamp 30
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen