KULTURKAMPF IN PRENZLAUER BERG: Shopping ist Bürgerrecht
VON ULRICH GUTMAIR
Die Schwester mailte mir aus Bayern. In der Betreffzeile hieß es: „1.-Mai-Krawalle in München“. Von den Schwabinger Krawallen hatte ich schon gehört. Aber dass sie jährlich wiederaufgeführt würden, ganz so wie in der Kreuzberger Provinz, das war mir neu. „Brennende Autos, Steinewerfer, verletzte Polizisten – in München ist das anders“, erläuterte die Schwester, um nach dieser didaktischen Einleitung auf den Punkt zu kommen: „Irgendwelche Idioten haben in meinen NAGELNEUEN Kindersitz am Fahrrad ein Buchsbäumchen gepflanzt, mit richtig viel Erde, Dreck und Sauerei. Ich fass es nicht.“ Da bekommt „Guerilla Gardening“ ganz neue Bedeutung und München einen situationistischen Klang.
Schwäbische Dimension
In Prenzlauer Berg wäre dergleichen niemals möglich, weil hier Kinderwagen und Kindersitze Luxusartikel in Premiumdesign sind. Die werden selbstverständlich in eigenen Schutzräumen vor Übergriffen bewahrt. Eigentum hat in Prenzlauer Berg eine schwäbische Dimension. Wer aber pflanzt Buchsbäume in Fahrradkindersitze? Das können nur irgendwelche linken Radikalinskis sein, die Deutschland am liebsten aussterben sähen. Solche gibt es auch zur Genüge in Berlin. Anstatt die Klappe zu halten, sich mal wieder zu duschen und andere Leute nicht beim Latteschlürfen und Bugaboo-Schaufahren zu belästigen, machen sie am 1. Mai Blockaden gegen Nazis. Das ärgert den hippen Prenzlberger nicht nur aus ästhetischen Gründen. Das beschneidet auch seine bürgerlichen Freiheiten aufs Empfindlichste.
Manch einer ist sich dann auch nicht zu schade, diesem Skandal vor den Kameras vom Spiegel-Web-TV performativen Ausdruck zu geben. Hysterisch umkreist der Mann sein Auto, das von einer Sitzblockade gegen Nazis – welche Nazis? – gestoppt worden ist. Er rauft sich die Haare. Dann sagt er vorwurfsvoll, vielleicht etwas zu theatralisch, in einem kitaelternversammlungsmäßigen Ton: „Nirgends kann ich einkaufen! Alle Läden haben zu! Und jetzt versperrt ihr mir auch noch den Weg!“ Das erweicht sogar die Polizei zu Tränen. Und so hört man aus einem Lautsprecher prompt die Bitte: „Das ist kein Einsatzfahrzeug, lassen Sie den Mann doch bitte durch!“
Ein tüchtiger Mann
Ob die Linksterroristen ein Einsehen hatten oder nicht, das zeigt der Bericht leider nicht, das macht aber auch nichts. Wesentlich ist doch Folgendes: Da gibt es einen arbeitsamen jungen deutschen Mann, der vermutlich fließend Englisch spricht, moderne Popmusik hört, sich lässig anzuziehen weiß und nicht zuletzt von eigener Hände Design lebt. Und dieser tüchtige Mann darf nicht einkaufen, weil Tag der Arbeit ist! Hallo? Er fährt durch die ganze Stadt. Er bekommt aber weder Pfisterbrot, Austern noch biodynamischen Wasabi für die Schaumsuppe. Und dann halten ihn irgendwelche Zottelblockierer vom Schlage Thierses – Schande für das Parlament! – auch noch vom Autofahren ab. Kein Wunder, dass er am Ende eines solchen Tages FPÖ wählt und für Minarettverbote stimmt. Und wenn er dann feststellen muss, dass es derzeit weder das eine noch das andere gibt am Kollwitzplatz, dann beweist das nur, dass hier so einiges im Argen liegt.
Ein neuer Tag bricht an, die Stadt kehrt zurück zum Alltag. Die Loftbewohner bewohnen ihre Lofts. Die Radikalinskis, außer Thierse, der einfach nicht gehen will, haben sich nach Friedrichshain-Kreuzberg getrollt, wo sie hingehören. Und die Schwester beschwert sich in einer neuen Mail. Sie verstehe den Zusammenhang zwischen dem Buchsbaum, Buxus sempervirens, und dem Gemeinen loftbewohnenden Prenzlberger, Homo prenzlbergensis, nicht. Die Antwort ist ganz einfach: Der Buchsbaum ist in allen Teilen giftig; der Prenzlberger auch.
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