: Die Wiederkehr des Immergleichen
TEXTILE THEORIEN Die Ausstellung „Kunst & Textil“ in Wolfsburg verfolgt den Aufbruch der Kunst in die Dreidimensionalität
VON BETTINA MARIA BROSOWSKY
Mit „knitting attacks“, also dem guerillahaften Umstricken städtischer Kleinarchitekturen wie Poller und Straßenschilder, zeigt sich allerorts textiles Aufbegehren im urbanen Raum. Mag das gleich mehrere Ausstellungshäuser in Deutschland, Frankreich und Italien bewogen haben, einmal kunsthistorische Erkundungen in bildnerische Sparten zu unternehmen, denen gemeinhin das Stigma des kulturell minderwertigen Kunstgewerbes anhaftet? Und des „Frauenkrams“, aufgrund der stark weiblichen Urheberschaft?
Das Kunstmuseum Wolfsburg bietet unter dem Titel „Kunst & Textil“ den wohl üppigsten kulturgeschichtlichen Querschnitt aller derzeitigen Sichtungen. Es thematisiert den Stoff als Material und Motiv in der Kunst der Moderne, spürt aber auch symbolischen und mythologischen Bedeutungen nach. Dafür werden rund 200 Exponate von über 80 KünstlerInnen aufgefahren, außerdem rund 60 anonyme Artefakte aus Ethnologie und Kunsthandwerk, gegliedert in elf thematische Kapitel.
Am Überbau gestrickt
Textilien bilden die zweite Haut des Menschen, kommen seinem Körper so nahe wie sonst kein Artefakt. Das Fadenwerk gewebter Textilien ist Grundbild einer anthropologischen Konstante aus Horizontalität und Vertikalität. Es verhilft, neben dem physischen Schutzraum, auch zu einer stabilen Seelenlage mittels eines universellen Ordnungssystems. So sehen es jedenfalls die Kunstwissenschaftler Bazon Brock und Ulrich Heinen im erwartungsgemäß opulenten Katalog des Wolfsburger Museums. Und sie lesen die Wiederkehr des Immergleichen im Webprozess zudem als die Urerfahrung menschlicher Weltbewältigung. Das textile Artefakt ist somit die weltumspannende Urkunst schlechthin.
Dieser theoretische Überbau soll die These tragen, das Textile sei maßgeblich am Abstraktionsverlangen der modernen Kunst beteiligt und darüber hinaus ein Generator dreidimensionaler Ausdrucksformen. Die Frage nach „Raum und Stoff“ benennt der Direktor des Kunstmuseums, Markus Brüderlin, als den roten Faden der gesamten Schau. Die Belege gelingen in den einzelnen Ausstellungskapiteln nicht immer nachvollziehbar. Trotzdem ist es ein Verdienst, diesen emanzipativen Gestus textiler Auftritte einmal nachzuzeichnen.
Im ersten Themenfeld, das sich der verlagernden Beziehung von Stoff und Tafelbild seit dem Jugendstil widmet, prallen spektakulär Gustav Klimts Bildnis der Marie Henneberg im üppig wogenden Gewand gegen ein computergeneriertes, deformiertes Großraster des Österreichers Peter Kogler. Weitere Kapitel beschäftigen sich etwa mit dem textilen Kunsthandwerk des Bauhauses, dem Informel als Geburtsstunde der Textilkunst bis hin zu Netzwerken materieller wie informationeller Natur.
Tasten lernen
Die Bauhauspädagogik immerhin forderte noch neben einem konzeptionellen gleichrangig einen sinnlichen Zugang zum Material, der etwa im Vorkurs an den legendären Tasttafeln unterschiedlicher Werkstoffe trainiert wurde. Die technisch optimierte Textilie entfaltete so ihren atmosphärisch hüllenden, raumbildenden Charakter als flexible, transluzente Stoffwand. Das zeigt eine Teilrekonstruktion des „Café Samt und Seide“ von Mies van der Rohe und Lilly Reich, ihr Ausstellungsbeitrag für eine Damenmodenschau anno 1927.
Mit dem Aufbruch des Textils in die dritte Dimension, so scheint es, entledigt es sich zunehmend seiner handwerklichen Rückverankerung. Ganz aktuell etwa spielt Chiharu Shiota in ihren raumgreifenden Dickichten aus schwarzem Fadenwerk und eingeflochtenen Objekten nur noch mit Gefühlsmomenten des Textilen – materialsensibel braucht die schnöde Vertackerung an Wänden und Decke nicht mehr zu sein. Oder Gerhard Richter: Er lässt am computergesteuerten Jacquard-Webstuhl seine informelle Malerei, mehrfach gespiegelt, zu Wandteppichen werden. Der nicht mehr handwerklich erstellte Stoff ist kalkuliert eingesetzter, verfremdender Bildträger.
Eine daneben gehängte Tapisserie von 1520 erstrahlt förmlich in naiver, künstlerischer Redlichkeit. Die Vorstellung im textilen Gewebe das Netz des Informationszeitalters zu finden, mündet in eine virtuelle Rauminstallation, erneut von Peter Kogler.
Natürlich verweisen Ausstellung und Katalog auf ein neues Bedürfnis nach taktil-textiler Betätigung in immer sinnenfeindlicher werdenden Lebenswelten. Umso unbefriedigender ist es dann, dass sämtliche Exponate nur visuell rezipiert werden können. Das läuft dem Credo vom Urtextil als zweiter Haut zuwider und frustriert unsere ureigenste, sinnenfrohe Erfahrung, die Welt um uns zuvorderst „begreifen“ und „‚erfassen“ zu wollen.
■ Bis 2. März, Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog (Hatje Cantz) 42 Euro Mehr zum Thema: ■ Bis 10. November, Textiles: Open Letter, Museum Abteiberg, Mönchengladbach ■ Bis 9. Februar, Décorum. Tapis et tapisseries d‘artistes, Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, Paris ■ Bis 23. März, Soft Pictures, Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, Turin ■ Bis 16. Februar, To Open Eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute, Kunsthalle Bielefeld
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