: Chronik des Pogroms
ZEITGESCHICHTE 75 Jahre nach dem 9. November 1938 sind erstmals Konrad Heidens Augenzeugenberichte der Opfer auf Deutsch erschienen
VON KLAUS HILLENBRAND
Dies Buch wünscht objektiv zu sein; es wünscht einen sachlichen Beitrag zur Naturgeschichte der Bestialität zu liefern“: Dieser Satz steht stellvertretend für den ganzen Text, den Konrad Heiden 1939 im Exil veröffentlichte und der heute, 75 Jahre später, zu einem Dokument der Nazibarbarei gegen die Juden geworden ist – und des Vergessens. Denn heute, da in Deutschland der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedacht wird, ist der Autor Konrad Heiden allenfalls Experten bekannt.
Dabei hat es kaum einen wortgewaltigeren, exakteren und entschiedeneren Gegner der Nazis gegeben. Markus Roth, einer der Herausgeber von „Eine Nacht im November 1938“, erinnert im seinem Nachwort an Heiden.
Der 1901 Geborene war einmal weltbekannt. Er schrieb – neben Rudolf Olden – die erste Hitler-Biografie überhaupt, die 1935 in Zürich erschien. Das Buch, in dem der Autor die Mythen des „Führers“ dekonstruierte, wurde das, was man heute einen Bestseller nennt; ins Englische und Französische übersetzt fand es in ganz Europa seine Leser. Auch in Deutschland, wo es natürlich verboten war. Joseph Goebbels notierte: „Welch ein Unrat, welch ein Schmutz.“
Doch nicht um Heidens Hitler-Biografie geht es hier, sondern um ein vergleichsweise schmales Bändchen, das 1939 beziehungsweise 1940 in englischer, französischer und schwedischer Sprache erschienen ist und nun zum allerersten Mal auf Deutsch vorliegt: „Eine Nacht im November 1938“ beschreibt anhand von Augenzeugenberichten die Barbarei der Nacht vom 9. auf den 10. November und die sich anschließenden Qualen deutscher Juden in Konzentrationslagern. Es war dies der einschneidende Wechsel der NS-Politik gegenüber den Juden von Diskriminierung, Isolierung und wirtschaftlicher Marginalisierung hin zum offenen Terror.
Heiden setzt darin auf die Wirkung des Dokuments. Weite Teile des Buchs bestehen aus Berichten von Menschen, die selbst Opfer des Pogroms geworden waren. Manche von ihnen lebten noch im Reich, daher mussten Ortsnamen und Autoren abgekürzt werden, andere hatten das Exil erreicht.
Alle berichten in bemerkenswert sachlichem Ton, was ihnen widerfuhr: „Herr X. wurde aus dem Bett gerissen und durch die zersplitterten Scheiben der Vorplatztür hindurchgeworfen, sodass er am ganzen Körper von den Splittern Schnittwunden erlitt. Er ging dann barfuß und blutüberströmt auf die Polizeiwache und wurde von dort auf Veranlassung der Beamten ins Krankenhaus geschafft.“
Häufig betonen die Opfer besonders Situationen, in denen sich etwa Polizisten ausnahmsweise korrekt verhielten, so, als glaubten sie, unterscheiden zu müssen zwischen dem Terror von SA und SS und den „rechtschaffenen“ Beamten: „Meist wurden die Leute in anständiger Weise aus den Wohnungen heraus verhaftet und zur Politischen Polizei geführt. Dort wurden die Personalien aufgenommen, alles in anständiger Weise.“ Schikanen, Folter und Hunger begannen danach im Konzentrationslager Dachau.
Heidens nüchterne Überleitungen zwischen diesen Dokumenten der Qual mögen sachlich sein, doch sie ergreifen Partei für die „Geiseln in den Händen der Nazis“, wie er schreibt. Und sie weisen in die unmittelbare Zukunft. Der in Paris lebende Autor zitiert aus dem Schwarzen Korps, der Zeitschrift der SS, in der von der „restlose[n] Vernichtung“ der Juden die Rede ist. Keine drei Jahre nach dem Novemberpogrom begannen die Deportationen der deutschen Juden in die Vernichtungslager im Osten.
Konrad Heiden bediente sich bei der Auswahl der Augenzeugenberichte unter anderem aus dem Informantenkreis der Exil-SPD. Vor allem aber nutzte er Informationen aus dem Jewish Central Information Office in Amsterdam. Daraus wurde später die Wiener Library in London, und deren Berichte über den 9. November 1938 liegen seit einigen Jahren ebenfalls als Buch vor.
Der Leser kann so zwischen den verknappten, in den Zusammenhang gestellten Berichten aus Heidens Buch und seiner Arbeitsgrundlage wechseln. Beide Bücher ergeben ein bedrückendes Panorama vom Leiden der deutschen Juden in jener Nacht, von deren Qualen, Folterungen und Erniedrigungen, aber auch vom Wegschauen der meisten Deutschen, die zwar in ihrer großen Mehrheit an dem Pogrom nicht teilnahmen, aber auch keinerlei Empathie für die Opfer zeigten oder gar Anstalten machten einzugreifen.
Konrad Heiden ist beim Einmarsch der Deutschen nach Frankreich 1940 zunächst in den unbesetzten Süden des Landes geflohen. Von dort erreichte er die Vereinigten Staaten. 1944 erschient dort von ihm „Der Fuehrer“. Heiden starb, schon halb vergessen, 1966 in New York.
Jetzt ist eines seiner wichtigsten Bücher wieder da.
■ Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hg.): „Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2008, 933 Seiten, 39,80 Euro
■ Konrad Heiden: „Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht“. Hg. von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 189 Seiten, 19,90 Euro
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