IM GAMBRINUS: Tischgebet
Im vergangenen Sommer war ich drei Monate Dorfschreiberin in einem kleinen Dorf im Hochschwarzwald, wo mir an jeder Ecke Unbekanntes begegnete. Unter anderem lernte ich den Förster kennen, der mit mir auf Auerhahnpirsch ging und mich zu einem wunderbaren Rehrücken in sein schönes Heim aus Holz einlud. Als ich mich auf das Essen stürzten wollte, forderte er das jüngste seiner vier Kinder auf, das Tischgebet zu sprechen. Um nicht zu verhungern, kam der Junge der Aufforderung nach. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ Es war ein fremdes Revier für mich.
Vor wenigen Tagen war der Förster mit seiner Frau und den Kindern zu Besuch in Berlin. Olympiastadion, Wachsfigurenkabinett, Reichstag, Potsdamer Platz, was Leute von außerhalb so anschauen, wenn sie in der Hauptstadt sind. Ich hatte einen Tisch im „Gambrinus“ bestellt, dieser Restauration in der Linienstraße schräg gegenüber vom Tacheles, wo es deftige Berliner Küche gibt. Während der Förster und ich eine Molle zischten, wurden die Kinder bei den Gerichten „aus fremden Töpfen und Pfannen“ fündig und bestellten fast ausnahmslos „Italienisches Schnitzel“, Schnitzel auf Spaghetti. Die Mutter wagte sich an einen „Bremsklotz“, eine Berliner Riesenboulette mit Biersoße, Mischgemüse und Kartoffeln, der Vater an ein „Ofenrohr“, Rinderroulade mit Rotkohl und Kartoffelkloß. Ich nahm „Berliner Leber“. Als die Kellnerin das Essen brachte, wetzten alle sogleich das Besteck. „Wie?“, fragte ich, „und das Tischgebet?“ Der Förster forderte seinen Jüngsten auf, das zu übernehmen. Weil der partout nicht wollte, sprach er selbst die salbungsvollen Worte, während die anderen die Hände falteten. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ Neben ihm auf der Bank lag der grüne Filzhut, den er sonst in seinem Revier aufhat. BARBARA BOLLWAHN
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