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Überwiegend Schwund im Norden

WANDEL In Norddeutschland werden in Zukunft immer weniger Menschen leben. Vor allem die Jungen zieht es in die Städte. Das heißt aber nicht, dass ländliche Gebiete in Zukunft keine Chance mehr hätten

Dass Familien und Alte in die Großstädte zurückkehrten, ist eine Mär

VON GERNOT KNÖDLER

Was haben Hamburg und der niedersächsische Landkreis Vechta gemein? Ihre Bevölkerung wird bis 2030 wachsen. Damit liegen beide Gebiete in Norddeutschland konträr zum Trend, denn in den meisten Kreisen und Städten werden 2030 weniger Menschen leben als heute. Grund dafür ist der fehlende Nachwuchs, den die Zuwanderung den Prognosen nach nicht ausgleichen wird.

Die Zukunft des Nordens, wie sie sich nach Berechnungen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung darstellt, in Kürze: Schleswig-Holstein wird knapp ein Prozent seiner Bevölkerung verlieren. Der starke Negativ-Trend in der Peripherie mit fünf bis zehn Prozent Einbußen wird gebremst durch einen Zuwachs in Flensburg, Kiel und dem Hamburger Nachbarkreis Ahrensburg.

Hamburg wird sieben Prozent an Einwohnern hinzugewinnen, während Bremen stagniert. Mecklenburg-Vorpommern ist mit minus 13 Prozent ein Ausreißer in die andere Richtung und das einzige Land, in dem alle Kreise Einwohner verlieren.

Niedersachsen wird fast fünf Prozent seiner Bevölkerung einbüßen – mit mehr als 15 Prozent besonders stark im Harz und drumherum. Einen Zuwachs gibt es nur im Landkreis Lüneburg und im Westen: den Kreisen Grafschaft Bentheim, Emsland, Cloppenburg, Vechta und Oldenburg.

Die Landkreise im Westen sind nicht das, was sich der Uneingeweihte als Zukunftsregion vorstellt. Und doch wird die Bevölkerung dort bis 2030 um bis zu fünf Prozent wachsen, im Cloppenburgischen sogar noch stärker. Und zumindest dem Kreis Vechta bescheinigt das Prognos-Institut in seinem Zukunftsatlas sogar überdurchschnittliche Zukunftschancen.

Die gute Bevölkerungsprognose verdanken die Landkreise ihrer für deutsche Verhältnisse hohen Geburtenrate: Im Kreis Vechta liegt sie bei 1,8 Kindern pro Frau, in Cloppenburg bei 1,9. Die Zukunftsaussichten befeuert hier das, was Prognos die „Nutzung endogener Clusterpotenziale“ nennt: die viel gescholtene massenhafte Fleisch-„Produktion“ und -Verarbeitung.

Das Prognos-Institut gründet seine Bewertungen auf die demographische Entwicklung, den Arbeitsmarkt, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit sowie den Wohlstand und die soziale Lage einer Kommune. Daraus leitet es gute oder sehr gute Zukunftschancen für Braunschweig, Hamburg und Wolfsburg ab. Leichte Chancen sieht es für die Hamburger Randkreise und die Region Hannover; leichte Risiken dagegen an der Nordseeküste, in Uelzen, Lübeck und Neumünster. Kritisch könnte es für Osterode und Bremerhaven werden.

Das Institut erwartet, dass sich bei der allgemeinen Schrumpfung die gut positionierten Regionen in Zukunft stärker von den übrigen absetzen werden. Anders als die süddeutschen Städte gäben erfolgreiche norddeutsche Städte wie Braunschweig und Wolfsburg kaum Anstöße für ihr Umland. Eine Ausnahme hiervon ist Hamburg mit seinem Speckgürtel.

Die großen, insbesondere die sehr großen Städte profitierten von einer Binnenwanderung in Deutschland, sagt Paul Gans vom Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie der Universität Mannheim – zumindest gelte dies für die Jahre 2004 bis 2010, die er gerade untersucht hat. In diesem Zeitraum hätten die 76 deutschen Großstädte zusammen 380.000 Einwohner hinzugewonnen, 300.000 davon die Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern. Die Einwanderung aus dem Ausland habe in diesem Zeitraum keine Rolle gespielt.

Dass Familien und Alte in die Großstädte zurückkehrten, hält Gans für eine Mär. Es sei die Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen, die in die großen Städte ziehe. Dabei spiele vermutlich eine Rolle, dass die Beschäftigungsverhältnisse der unter 35-Jährigen nicht mehr so stabil seien. Ein Häuschen zu bauen, sei unter diesen Umständen schwierig. Paare mit Arbeitsplätzen in verschiedenen Städten seien auf eine gute Verkehrsanbindung angewiesen. In den Städten lasse sich der Alltag einfacher organisieren. Außerdem hätten die Städte ihr Image verbessert und städtebaulich Möglichkeiten für den Zuzug geschaffen.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass der Wegzug der Jungen, die Überalterung auf dem Land verschärft: „Wenn die weggehen, kommt sofort die Frage nach der Schließung von Dienstleistungen“, sagt Gans. Außerdem fehlen sie als Arbeitskräfte. Das setzt eine Abwärtsspirale in Gang.

„Anders als früher wird die Landflucht nicht mehr durch hohe Kinderzahlen ausgeglichen“, stellt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer Studie zur Zukunft der Dörfer fest. Zwei Drittel der ländlichen Gemeinden Deutschlands hätten zwischen 2003 und 2008 mehr als ein Prozent ihrer Bevölkerung eingebüßt. Die Faustregel: Je abgelegener die Gemeinde ist, desto größer ist der Überschuss der Sterbefälle über die Geburten. Mittelfristig seien zahlreiche Dörfer in ihrer Existenz gefährdet, so das Institut.

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