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Ein unerfreuliches KapitelKOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Wieder einmal wurde eine Krise zwischen der Türkei und der EU in letzter Minute abgewendet – mindestens 35 weitere Krisen dürften uns allerdings noch bevorstehen. Denn 35 Kapitel sollen zwischen der Türkei und der EU verhandelt werden. Und bei jedem Kapitel müssen zur Eröffnung und zum Abschluss jeweils alle 25 – beziehungsweise bald 27 Mitglieder – ihre formale Zustimmung geben. Irgendjemand wird sich da schon finden, der mit bestimmten Punkten ein Problem hat. Ganz sicher werden das meist die griechischen Zyprioten sein, die schon angekündigt haben, jedes Verhandlungskapitel dazu zu nutzen, die verhassten Türken ordentlich zu grillen.

Kann das so weitergehen? Eigentlich nicht. Die Menge an Misstrauen und Ängsten, an Ablehnung bis hin zu regelrechtem Hass gegenüber der Türkei, die sich bei vielen EU-Bürgern und manchen EU-Regierungen in den letzten Jahren gezeigt hat, bietet keine gute Basis für sachliche, zielorientierte Verhandlungen. Bei denen soll es eigentlich darum gehen, dass die Türkei in den kommenden 15 bis 20 Jahren die Standards der EU übernimmt. Dieser Prozess ist schwer genug zu bewältigen – er wird aber nur gelingen, wenn auf beiden Seiten ein Minimum an gutem Willen vorhanden ist.

Der fehlt aber nicht nur innerhalb der EU, sondern als Reaktion darauf zunehmend auch in der Türkei. Die Zeiten, als man in Ankara noch glaubte, in der EU eine echte Chance zu haben und deshalb auch offen für Kritik aus Brüssel war, scheinen längst vorbei. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, herrscht in der Türkei sowieso das Primat der Innenpolitik. Wenn dann noch eine griechisch-zypriotische Regierung dazukommt, die glaubt, die Türkei mit Hilfe der EU vor sich her treiben zu können, kann man getrost davon ausgehen, dass das Spiel bald zu Ende ist: Vermutlich schon Ende Oktober, wenn die griechischen Zyprioten auf Vollzug der Zollunion bestehen werden, dürfte zwischen der Türkei und der EU eine neue Eiszeit beginnen. Das kann vielen in der EU egal sein. Doch gerade die griechischen Zyprioten werden ihre jetzige Politik vielleicht bald bedauern: wenn ihnen nur ein Scherbenhaufen bleibt.

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