: Merkel macht Grüne links
Die Kanzlerin erklärt im Bundestag Schuldenrekorde und höhere Mehrwertsteuer. Grünen-Rednerin Künast tritt überraschend deutlich als Anwältin der kleinen Leute auf
AUS BERLIN HANNES KOCHUND LUKAS WALLRAFF
Sie fehlt bei keinem Spiel. Am liebsten wäre es Angela Merkel wahrscheinlich, wenn sie die deutschen Fußballmannschaft täglich bejubeln könnte. Das hebt die Stimmung. Gestern jedoch musste die Kanzlerin ihre Tour durch die Stadien kurz unterbrechen und den aktuellen Haushalt ihrer Regierung im Bundestag verteidigen – samt neuer Schuldenrekorde und höherer Mehrwertsteuer. Das trübt die Stimmung. Also machte es Merkel so schnell wie möglich.
Gleich als erste Rednerin der Koalition tat sie ihr Bedauern kund. „Wir alle hier würden gern über Steuersenkungen sprechen“, sagte Merkel, „wir würden gern Wohltaten verkünden.“ Das sei aber leider nicht möglich, weil sie als Kanzlerin „das Ganze sehen“ und feststellen müsse: Deutschland sei – bei aller Fußballeuphorie – „auch ein Sanierungsfall“, was schmerzhafte Schritte nötig mache. Punkt.
Eine Grundsatzrede, wie bei Haushaltsdebatten sonst üblich, wollte oder konnte sie nicht halten. Wegen der schwierigen Gemengelage in den laufenden Verhandlungen zwischen Union und SPD über die Gesundheit, Föderalismus und Unternehmensteuern verzichtete die Kanzlerin auf genaue Zielbeschreibungen und blieb, was künftige Entscheidungen angeht, sehr vage. So begründete sie ihre Präferenz für den geplanten Fonds zur Finanzierung des Gesundheitssystems damit, dass dieser „mehr Transparenz“ bringen werde. Weder wisse man heute genau, welche Versicherten wie viel einzahlten und erhielten, noch ließen sich die Kosten der ambulanten und stationären Versorgung vergleichen, so Merkel. Das werde der Fonds ändern. Ob die Privatversicherten einbezogen werden? Unklar. Über das Gesundheitswesen sprach sie nur einen klaren Satz: „Es wird teurer werden.“ Für alle. Aber für wen besonders?
Trotz aller Ungewissheiten stimmten Union und SPD dem Haushalt wie erwartet zu. Merkels kurze, schwammige Rede ließ jedoch viel Raum für die Opposition – und da kam es zu einer Überraschung. Seit Merkels Regierungsantritt hatte es bisher immer die gleiche Rollenverteilung gegeben: Die FDP schreit nach mehr Freiheit, die Linkspartei nach mehr Gerechtigkeit, die Grünen eiern irgendwo dazwischen herum.
Renate Künast wollte diesen Eindruck gestern offensichtlich korrigieren. Dass die große Koalition die Steuern für Konzerne senken wolle, gleichzeitig die Mehrwertsteuer anhebe und gut verdienenden Beschäftigten ein höheres Elterngeld auf Kosten der Arbeitslosen zuspreche, sei ein Ausdruck sozialer Asymmetrie, beklagte die Fraktionschefin der Grünen – und ließ ihre Ausführungen in einer vernichtende Grundsatzkritik gipfeln: „Darin, den kleinen Leuten ins Portemonnaie zu greifen, besteht der Konsens der großen Koalition.“ Auch den von CDU-Politikern avisierten Umbau des Ehegattensplittings zu einem Familiensplitting verdammte Künast: Es privilegiere „am Ende wieder die, die hohe Einkommen haben“.
So ging es weiter: Die Föderalismusreform beinhalte zukünftige Ungerechtigkeiten zulasten der Kinder, sagte Künast. Dass die Schulpolitik den Ländern überlassen werden soll, werde Familien, die von einem Bundesland ins andere umziehen, große Probleme bereiten und zu Benachteiligungen führen.
Von Gregor Gysi unterschied sich Künast fast nur dadurch, dass der Linkspartei-Fraktionschef vor allem die SPD angriff: Von der, sagte Gysi, hätten Besserverdienende und Konzerne „nichts zu befürchten“.
So unklar Merkel blieb: Die Haushaltsdebatte hat die politischen Koordinaten leicht verschoben. Zumindest bis zu den Landtagswahlen im Herbst haben sich die Grünen entschieden, die Koalition von links anzugreifen.
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