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Alte Bücher auf neuen digitalen Wegen

KRIEGSFOLGEN Bestände aus der Staatsbibliothek Berlin in Krakau wurden jetzt online verfügbar gemacht

Online-Bibliothek

■ Die Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) scannt ihre Bestände seit Jahren ein, um sie online weltweit verfügbar und bibliografisch recherchierbar zu machen. Das geschieht über Kooperationen und mithilfe von Drittmitteln beispielsweise der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Ausgelagerte Bibliotheksbestände, die sich nach 1945 auf fremdem Staatsgebiet befinden, werden wie Werke der Bildenden Kunst mit unklarer Herkunft und kriegsbedingt unklarem Eigentumsverhältnis behandelt. Hier ist der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) zuständig. Er fördert das aktuelle Pilotprojekt der Ostasiensammlung der Staatsbibliothek, die eigenen alten Bestände digital mit denen in Krakau zu ergänzen.

VON BEATE BARREIN

Unabhängig von Aufbewahrungsort oder Eigentümer können die Nutzer von Glück reden, dass die wertvollen Exemplare in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau überhaupt noch vorhanden und so gut erhalten sind. Denn es gibt Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin, die komplett zerstört wurden. In den Bergwerken, Schlössern oder Klöstern im gesamten damaligen Deutschen Reich, wohin der Bestand in den letzten Kriegsjahren bis 1944 gebracht wurde, um ihn vor Angriffen auf die Hauptstadt zu schützen. Nach dem Potsdamer Abkommen befanden sich Auslagerungsorte auch auf polnischem Boden. Viel gelangte in die Jagiellonen-Bibliothek nach Krakau.

Dr. Martina Siebert, Fachreferentin für China in der Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, reiste für die Digitalisierung in die Universitätsstadt. Sie sieht die Werke zunächst ganz als Bibliothekarin. „Einem Bestand geht es am besten, wenn ihn keiner benutzt. Der Zustand ist also bestens.“ Das Sondersammelgebiet Ostasien, wozu etwa Schriften aus China, Japan und Korea gehören, wurde wie der gesamte Bestand besonders gegen Ende des Krieges eilig und unsystematisch ausgelagert. Dadurch wurden Originalhandschriften wie auch Beethovens 8. Sinfonie zerteilt: Drei Sätze befinden sich in Berlin und einer in Krakau.

Die Ostasiatika wurden vor dem Einscannen von Siebert geprüft und mit dem Berliner Bestand abgeglichen. „In Krakau befindet sich ein großer Teil dessen, was hier fehlt. Das geht manchmal bandweise.“ Mal liegt eine Signatur in Krakau, eine in Berlin und eine fehlt. Dies ist symptomatisch für den Gesamtbestand der mehr als 4 Millionen Titel und Originalschriften, die vor 1939 in der Staatsbibliothek erfasst waren. Mehr als die Hälfte kam nach Kriegsende zurück, als vernichtet gelten bis zu 400.000 Werke, als verschollen etwa 300.000, die in unter anderem verteilt in Russland vermutet werden. In Krakau lagern viele kulturhistorisch bedeutende Briefe oder Drucke. Der größte Teil ist nicht bibliografisch erschlossen. „Bisher musste man quasi eine Punktlandung im Krakauer Bestand machen mit einer alten Signatur, wenn man die hatte“, beschreibt Sinologin Siebert die bisherige Bibliotheksrecherche.

Die Idee, die ostasiatischen Schriften als Pilot zu digitalisieren, gab es schon 2008, erinnert sich Matthias Kaun, Leiter der Berliner Ostasienabteilung. Die ursprüngliche historische Sammlung sollte digital rekonstruiert werden. Schließlich bekam Kaun vom damaligen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Kulturstaatsminister Bernd Neumann, ein Jahr bewilligt – statt der beantragten zwei. Im Januar 2013 ging es los. Davor schlossen die Bibliotheken ganz pragmatisch einen Vertrag für Workflow, Qualität der Daten und Preis. Krakau stellte Personal, Raum und Equipment bereit, um die „etwa 300 laufenden Meter“ – so schätzt Kaun – Ostasiatika einzuscannen.

Für das Projekt einschließlich Katalogisierung wird die Ostasienabteilung mit 213.000 Euro vom BKM gefördert. Berlin und Krakau erhalten je ein Exemplar der digitalen Master-Images und können diese frei verwenden. „Das Ganze ist sehr kooperativ und reibungslos über die Bühne gegangen. Man kann Krakau das nur hoch anrechnen, dass sie für dieses Projekt eigene Projekte hintenangestellt haben.“ Kaun hatte sich bewusst für die Krakauer entschieden, auch wenn Firmen aus China und Taiwan sehr interessiert an Aufträgen dieser Art seien.

Nun ergänzen diese ersten Krakauer Digitalisate – sie müssen noch katalogisiert werden – die vorhandenen in Berlin. Wissenschaftlern und Rechercheuren würde das reichen – fast. „Es gibt eben bestimmte Dinge, die man nur am Original nachprüfen kann. Außerdem hat das Original die Aura. Es ist der Ursprung des Ganzen“, sagt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie ist Träger der Staatsbibliothek und somit zuständig für die verlagerten Kulturgüter.

Parzinger spricht eigentumsrechtlich Klartext. „Wir bekennen uns ganz klar zu den Verbrechen der Deutschen, zur Zerstörung von Kulturgut, zu den Plünderungen, die in Polen begangen worden sind. Der Bestand in Krakau ist Teil der ehemals Preußischen Staatsbibliothek, heute Staatsbibliothek zu Berlin. Er ist nach dem Kriegsende von Polen zu polnischem Staatseigentum deklariert worden, was dem Völkerrecht widerspricht. Somit bestehen wir für diese verlagerten Bestände aus Berlin weiterhin auf unserem Eigentumsanspruch. Die Digitalisierung ist eine sehr gute Möglichkeit der ortsunabhängigen Zugänglichmachung, sie löst jedoch nicht die Eigentumsfrage.“

Politiker und Diplomaten beider Staaten haben dies bisher – es gab einige Annäherungen seit den 1990er Jahren und sogar den Gedanken an eine gemeinsame Stiftung – nicht gelöst. Es hätten auch polnische Kulturgüter gegengetauscht werden können. Dazu kam es nicht. Die polnische Seite sehe die deutschen Bibliotheksbestände gewissermaßen als Kompensation für die deutsche Kriegszerstörung an, sagt Parzinger. Die Mitarbeiter der Ostasienabteilung dagegen hatten während ihrer Besuche im vergangenen Jahr die Eigentumsproblematik überhaupt nicht im Sinn. „Als Kommunikationssprache hat uns Krakau sogar Deutsch angeboten, was half Missverständnisse zu vermeiden. Der Umgang auf der Fachebene war freundlich, fast freundschaftlich.“ Man bemühe sich fachlich um eine ganz enge Zusammenarbeit, auch mit Russland, betont Stiftungspräsident Parzinger ebenso. Trotz ungelöster Eigentumsproblematik würde er diesem ersten Projekt „gerne weitere folgen lassen“.

Im Laufe dieses Jahres sollen die Scans über die Staatsbibliothek abrufbar sein, darunter Handschriften des Botanikers und Sinologen Christian Mentzel (1622–1701) und historische Kartenwerke, erklärt Siebert. „In der Sammlung Müller in Krakau haben wir ein bisher unbekanntes handschriftliches Werk entdeckt, die ‚Illustrierte Erläuterung der Chinesischen Küste und Inseln‘. Das Interesse an Karten dieser Art ist groß.“ Auch weil die Eigentumsverhältnisse an diesen Inseln oft unklar seien. Ein vergleichbares Digitalisat, die Seldon-Karte in der Bodleian Library, Oxford, werde jedenfalls oft angeklickt.

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