: Der Naziflüsterer
FLÜCHTLING Umeswaran Arunagirinathan ist als 12-Jähriger alleine von Sri Lanka nach Hamburg geflohen. Heute arbeitet er als Arzt an der Uniklinik und hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Manchmal liest man eine kurze Notiz über sie in der Zeitung: Dann kritisiert ein Flüchtlingsbeirat die Abschiebehaft für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge oder eine Ministerin sagt, dass man die Einzelfälle flexibel handhaben müsse. Aber was weiß man schon über die Einzelfälle?
Umeswaran Arunagirinathan hat ein Buch darüber geschrieben, „Allein auf der Flucht“, heißt es, und auf dem Buchdeckel sieht man eine Landkarte, auf der der Weg des 12-Jährigen rot eingezeichnet ist. Von Sri Lanka nach Hamburg, mit Umweg über Ghana, weil die Schleuser beim ersten Anlauf scheiterten. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Umeswaran Arunagirinathan seinem Onkel das Geld dafür zurückgeben konnte und es war ein stolzer Moment für ihn. Es ist teuer, nach Europa zu kommen. Aber Arunagirinathan ist jetzt Assistenzarzt an der Herzchirurgie der Hamburger Uniklinik und kann das Geld aufbringen.
Traumberuf Arzt
Arunagirinathan wollte schon als Kind in Sri Lanka Arzt werden, wo es kostbar war, so sagt er, einem Mediziner zu begegnen. Seiner kranken Schwester konnten sie nicht helfen. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil das Mädchen wegen des Bürgerkriegs im Land nicht in die Klinik gebracht werden konnte, die sie richtig behandelt hätte. Es starb.
Ihr Bruder sitzt jetzt in einem Café nahe der Hamburger Uniklinik und sagt, dass er mindestens Oberarzt werden wolle. Dass es wichtig sei, gut vernetzt zu sein. Dass er, das SPD-Mitglied, später vielleicht in die Politik gehen wolle. Umes, so hat ihn seine Mutter genannt und so nennen ihn seine Freunde in Deutschland, Umes Arunagirinathan redet viel und schnell, er wirkt wie jemand, der jeden Moment nutzen möchte.
Manchmal, wenn der 32-Jährige über Netzwerke spricht, klingt er wie ein Jungliberaler, und dazu würden optisch das Hemd-Pulli-Ensemble und die spitzen Stiefel passen. Er hat eine Schwäche für teure Klamotten, das gibt er offen zu. Und dann wieder erzählt er davon, dass er in einer WG lebt, nicht nur, weil es günstiger ist, sondern auch, weil er dadurch Gesellschaft hat von Leuten, die weniger erfolgreich sind. „Es tut mir auch gut zu lernen, wie es jemandem geht, der arbeitslos ist.“
Jungen werden verhaftet
Auf Sri Lanka ging es seiner Familie gut, solange der Vater Arbeit hatte, danach wurde es schwierig. Sein Vater erfüllt ihm, dem ältesten Sohn, jeden Wunsch: den Hund, die Tauben, Fische und Ziegen. Nur ein Pferd ist zu teuer. Aber dem Bürgerkrieg kann die Familie nicht ausweichen. Immer wieder müssen sie sich vor Soldaten verstecken, Nachbarn sterben bei Angriffen und tamilische Jungen laufen Gefahr, von der Regierung als mutmaßliche Mitglieder der Guerillabewegung Tamil Tigers verhaftet zu werden.
Schließlich ist klar: Die Familie wird den ältesten Sohn nach Europa schicken. Um ihn in Sicherheit zu bringen, aber auch, weil dieser Sohn Geld aus Europa schicken könnte. „Das ist schon eine gute Rentenversicherung“, sagt Umeswaran Arunagirinathan und verteidigt seine Familie, ohne dass er sie kritisiert hätte. „Es ist für eine Mutter nicht einfach, ein Kind wegzuschicken. Sie hat es nicht auf einer egoistischen Basis getan“, sagt er.
In Deutschland kommt der Junge bei seinem Onkel unter. Wie es seinen Eltern und Geschwistern geht, erfährt er nur durch Briefe, die oft Wochen brauchen. Dann weiß der Zwölfjährige, dass es ihnen vor drei Wochen gut ging, aber was der Krieg inzwischen angerichtet hat, weiß er nicht. Er spricht kein Deutsch und vieles ist ihm fremd. Unvorstellbar in Sri Lanka, dass Jungen und Mädchen nebeneinander in der Klasse sitzen, dass Frauen Auto oder Fahrrad fahren. Unvorstellbar auch, dass die Schüler nicht aufstehen, wenn der Lehrer die Klasse betritt. Nur die Hochhäuser, die er in Europa erwartet hat, die findet er in Mümmelmannsberg wieder und auch den Schnee, nur viel seltener, als er gedacht hat.
Sehnsucht eines Kindes
Aber er ist entschlossen, nicht außen vor zu bleiben. Und wenn er erklärt, warum, dann klingt es wie integrationspolitische Ermunterung und amerikanischer Aufstiegstraum in einem. Nach dem Pragmatismus eines Einwanderers und der Sehnsucht eines Kindes nach einer Andock-Möglichkeit. „Wenn ich in einen Raum reinkomme, dann finde ich, es ist die Aufgabe von dem, der reinkommt, sich vorzustellen, den Kontakt zu suchen“, sagt er. „Letztendlich möchte er in diesem Raum ja teilhaben, er möchte ja mitbestimmen.“
Umes wird Klassen-, dann Schulsprecher. Seine erste Rede vor der Schule, so sagt er, müsse seine Deutschlehrer gequält haben. „Aber die letzte war toll.“
Die Gesamtschule in Mümmelmannsberg, einem so genannten Brennpunkt von Hamburg, wird für ihn zur Heimat. „Es wurde kein Unterschied gemacht“, sagt er, „ich gehörte zur Schule.“ Das Verhältnis zu Onkel und Tante bleibt eher lose, Umes sucht sich Ersatzfamilien. Eine afghanische und die eines Lehrers, der ihm beisteht, als er abgeschoben werden soll.
Es ist Arunagirinathan ein großes Bedürfnis zu erzählen, dass die Menschen ihn mögen. Dass er in seiner Hamburger Klinik in den Betriebsrat gewählt worden ist. Dass seine frühere Schule und die Mitarbeiter des Restaurants, in dem er als Spüler gearbeitet hat, Geld für sein Medizinstudium in Lübeck gesammelt haben.
Putzmann bei McDonald‘s
Aber das andere lässt er nicht aus. Er hat nicht vergessen, wie er als Putzmann bei McDonald‘s in Lübeck arbeitete und sich schämte, draußen den Müll einzusammeln, weil er fürchtete, Kommilitonen zu begegnen. Er hat auch nicht vergessen, wie er für die Chefin eines anderen Restaurants Einkäufe vom Markt trug. Hinter ihr gehend und in den schmutzigen Arbeitsklamotten, weil sie ihm nicht erlaubte, sich vorher umzuziehen. „Das war respektlos gegenüber meiner Person“, sagt er. „Ich war ja nur der Tellerwäscher.“
Und dann sagt er, dessen großes Credo es ist, aus allen Erfahrungen etwas zu lernen: „Ich finde es positiv, weil es mich so prägt, dass ich nicht so ende wie diese Frau.“ Schließlich sei er jetzt selbst in der Position, Anordnungen zu geben.
Denn er hat es geschafft. Er schickt seinen Eltern jeden Monat 350 Euro, damit sie im sicheren Süden leben können, und er finanziert die Ausbildung des Nachbarssohnes. Im Krankenhaus gibt zwei, drei andere aus Mümmelmannsberg, die es auch geschafft haben. Arunagirinathan hat sein Buch wohl auch deshalb geschrieben, um den Nicht-Mümmelmannsbergern zu zeigen, dass es sie gibt, diese Erfolgsgeschichten.
Die „Scheiß-Deutschen“
Eines Abends, als er in Hamburg mit der U-Bahn vom Tellerwaschen nach Hause fuhr, wurde er Zeuge, wie eine Gruppe Ausländer zwei deutsche Jugendliche fragte, ob sie eine Zigarette hätten. Sie hatten keine, woraufhin die Gruppe sie mit den Worten „Scheiß-Deutsche“ aus der U-Bahn warf. „Ich habe mich gefragt, was die Jugendlichen danach gedacht haben“, sagt Umeswaran Arunagirinathan. „Und was für einen Frust müssen die anderen gegenüber den Deutschen haben.“ Dann ist er nach Hause gegangen und hat 15 Seiten über das Thema geschrieben. Er hat Interviews an seiner Schule dazu geführt. Aber der Konkret-Literatur Verlag, dem er das Ergebnis geschickt hat, war nicht so sehr an den Interviews als an seiner eigenen Geschichte interessiert.
Jetzt liest er vor Jugendlichen aus seinem Buch und man fragt sich, ob die ihm glauben, dass man es schaffen kann. „Ich habe im Jugendgefängnis in Schleswig gelesen, um ihnen zu zeigen: Es ist nie zu spät“, sagt Arunagirinathan dazu. „Es ist nicht einfach“, räumt er ein, aber das ist es ja gerade, was ihn reizt. Ihn, der von sich selbst sagt, dass er „stolz“ sei, Deutscher zu sein. Und dass er, und hier kommt sein Ehrgeiz ins Spiel, zeigen will, dass man nicht blaue Augen und helle Haut haben muss, um mitspielen zu können.
Deutsch geworden
Wie anders, wie deutsch er geworden ist, hat er gemerkt, als er seine Eltern wieder getroffen hat. Bei der Schwester, die in London lebt, in einem Viertel, in dem viele Tamilen wohnen. „Die sind nicht integriert“, sagt Arunagirinathan, „da sind wir in Deutschland viel weiter.“ Er findet, dass er weltoffener, auch kritischer ist als seine Familie. „Es waren nicht nur schöne Momente in London“, sagt er. „Es ist nicht schön für Eltern zu sehen, dass einem das Kind so fremd vorkommt. Für mich auch nicht.“
Er schreibt jetzt an einem zweiten Buch. Ein Kapitel soll „Der Naziflüsterer“ heißen und handelt von einem alten Mann, der nicht von Arunagirinathan behandelt werden wollte. Er war ihm zu dunkelhäutig. Arunagirinathan hat ihn behandelt, eine Woche lang, erfolgreich. Danach kam der alte Mann und sagte: „Du bist ein Guter.“ Ob er sich darüber freuen konnte? Natürlich, sagt er. „Das ist ein Spiel – ich habe doch gewonnen“. War er nicht zornig? „Es ist das Vernünftigste so“, sagt er. „Sicher nicht das Menschlichste. Dann hätte ich gesagt: ,Tschüss, dich muss ich nicht behandeln.‘ Aber der Mensch ist immer noch lernfähig, auch mit 80 Jahren.“
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