: Laufen deutsche Jugendschützer Amok?JA
PUBERTÄT Solariumverbot, Alkopop-Stop, Musikzensur und jetzt auch noch Internetfilter: Selten wurde die Jugend so bevormundet
Susanne Graf, 17, kommt aus Mühlhausen und ist Mitglied bei den Jungen Piraten
Die deutschen Jugendschutzbestimmungen gehören zu den schärfsten in Europa. Es ist allerdings nicht zu erkennen, dass in Deutschland ein wirksamerer Schutz erreicht wird als in unseren Nachbarländern. Unter diesen Umständen weitere Verschärfungen zu verlangen, kann man nur als Aktionismus abtun. Für sinnvolle Alternativen wie die Förderung von Medienkompetenz fehlt dagegen das Geld. „Entwicklungsbeeinträchtigend“ sind nicht nur bestimmte Medieninhalte. Entwicklungsbeeinträchtigend ist es auch, Jugendliche von ihrer Umwelt komplett abschotten zu wollen. Immer neue Maßnahmen, seien es Kennzeichnungspflichten und Internetsendezeiten im Jugendmedienschutzstaatsvertrag oder die Behinderung von LAN-Parties, sind wirkungslos. Sie wirken ihrem erklärten Ziel sogar entgegen, weil sie uns Jugendlichen den natürlichen Umgang mit Medien verwehren.
Ursula Fehling, 27, ist Bundesvorsitzende im Bund der Deutschen Katholischen Jugend
Wenn „Amok laufen“ als hilflose Reaktion auf eine komplexe Situation verstanden wird, dann verhalten sich deutsche Jugendschützer auf jeden Fall so. Forderungen nach mehr Verboten und Verschärfungen im Jugendschutz werden nicht nur häufiger, sie kommen fast reflexartig. Immer prompt nach Schlagzeilen über erschreckende Ereignisse wie tödliche Alkoholexzesse von Minderjährigen. Aus meiner Sicht sind Jugendschutzgesetz und Jugendstrafrecht in diesen Bereichen klar und ausreichend. Aber wie schützt die Gesellschaft Jugendliche vor Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut? Debatten über Jugendschutz inszenieren Jugendliche häufig als gefährdete und gefährliche Spezies. Diese Sicht auf Jugendliche ist einseitig, nicht selten diskriminierend. Ein sozial gerechter Bildungsansatz, der jungen Menschen Freiräume zur Entwicklung einer starken Persönlichkeit bietet, der sie ernst nimmt und Kritikfähigkeit stärkt, ist und bleibt der beste Schutz.
Simon Hillebrand, 22, ist Student in Tübingen und hat bei taz.de kommentiert
Mit nicht einmal zehn habe ich die ersten Pornohefte im Schrank meines Vaters gefunden, mit elf die ersten Computerspiele gespielt und mit vierzehn das erste Mal Alkohol getrunken. In der Zeit hab ich auch das Internet für mich entdeckt. Heute bin ich Mathematik-Student, überzeugter Humanist, Mitglied der Piratenpartei und obendrein auch noch immer Computerspieler. Also, liebe Jugendschützer, bei mir habt ihr gnadenlos versagt. Ich bin trotz all eurer Verbote ein guter Mensch geworden! Ich bilde mir lieber selbst eine Meinung, das müsst ihr nicht für mich tun. Grenzen ziehen und Freiheiten gewähren ist Sache der Eltern und nicht eure. Deshalb Dank an meine Eltern, die das stets genauso sahen.
KAAS, 24, Rapper, wurde für seinen Song „Amok Zahltag“ scharf kritisiert
Oscar Wilde hat geschrieben: „Solange man den Krieg als etwas Böses ansieht, wird er seine Anziehungskraft behalten. Erst wenn man ihn als ganz Gewöhnliches ansieht, wird er seine Popularität verlieren.“ Dieses Zitat passt hier perfekt. Sobald ein Spiel oder ein Musiktitel verteufelt wird, wächst die Faszination. Man erreicht also genau das Gegenteil: kostenfreie Werbung für etwas, das selbst nach dem Verbot immer noch ohne Probleme erhältlich ist. Wenn ich selbst vor 15 Jahren auf dem Schulhof in einer Kleinstadt wusste, wie ich an verbotene Filme komme, wie einfach ist das dann bitte heute für die „Digital Natives“? Ich bin gegen Verbote, das bringt nichts. Aber ich bin für die Förderung von Mitgefühl und Friedfertigkeit. Ein Schulfach, das die Jugendlichen mit Weisheit und Meditation vertraut macht, wäre ein schöner Ansatz.
NEIN
Maxim Drüner, 25, ist Rapper der umstrittenen Berliner HipHop- Gruppe K.I.Z.
Ich denke, es ist übertrieben zu behaupten, wir leben in einem krassen Zensurstaat. Es gibt aber auf jeden Fall vieles, was schief läuft. Bei der Musikzensur sind es vor allem die Prozesse, die nicht klargehen: Da sitzen Leute in Gremien zusammen, die alle über 40 sind und darüber entscheiden, welche Lieder verboten werden, weil sie zu anstößig sind. Das ist meiner Meinung nach ein völlig undemokratischer Prozess und schadet vor allem unbekannteren Künstlern, die sich allein das Erscheinen vor der Bundesprüfstelle nicht leisten können. Abgesehen davon bringen Verbote ohnehin nichts. Grundsätzlich finde ich es aber in Ordnung, Dinge zu prüfen und dann vielleicht mit einer Altersangabe zu labeln, das wäre für mich ein Kompromiss. Aber wenn wir schon dabei sind: Man müsste auch die Bild-Zeitung mit einer Altersangabe versehen. Denn die halte ich für wirklich gefährlich, hetzerisch und ganz klar rassistisch. Das wiegt schwerer als unsere Musik.
Dorothee Bär, 32, ist Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Familie und Jugend
Alleine schon die Fragestellung ist unglücklich. Denn hier wird ein Zusammenhang zwischen Amokläufen und mangelndem Jugendschutz suggeriert, für den es keinen seriösen wissenschaftlichen Beweis gibt. Die Amokläufe an Schulen in den vergangenen Jahren sind traurige Tiefpunkte unseres freiheitlichen Zusammenlebens. Die anschließenden Pawlow’schen Reflexe für eine eilige Verschärfung des Jugendmedienschutzes sind Höhepunkte blinden Aktionismus. Die deutsche Jugendschutzgesetzgebung ist eine der strengsten weltweit. Außerdem: Bringen Verschärfungen und Verbote tatsächlich Verbesserungen? Mit Sicherheit nicht. Vom Verbotenen geht immer ein besonderer Reiz aus. Viel wirksamer ist Aufklärung der Kinder über Chancen und Risiken des Internets. Medienkompetenz ist der Jugendschutz im 21. Jahrhundert!
Bruno Nikles, 62, ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendschutz
Ich bin der Auffassung, dass wir in Deutschland durch die lange Tradition der Jugendschutzarbeit ein hohes Maß an Schutz erreicht haben und immer wieder lebendige Debatten darüber führen, was diese Gesellschaft jungen Menschen zumuten darf und was nicht. Die „Jugendschützer“ sind übrigens selbstkritisch genug, um auch manche Regelungsversuche als überzogen (bestimmte Arten von Internet-Sperren), als voreilig (Testkäufe mit Minderjährigen) oder als wenig abgeklärt (Killerspiele) zu bewerten. Aber: Wo kämen wir hin, wenn sich diejenigen durchsetzten, die das Internet als rechtsfreien Raum postulieren oder ihr Profitstreben über die Schutzbedürftigkeit von jungen Menschen stellen? Jugendschutz steht nicht im Gegensatz zu Freiheit, sondern ist ein verantwortungsbewusster Beitrag zur gesellschaftlichen Gestaltung.
René Faccin, 46, ist Vize-Vorsitzender des Landeselternausschusses Berlin
Die Jugend in Deutschland ist durchaus besser als ihr Ruf. Jugendschutzgesetze sind aber gerade da notwendig, wo Jugendliche sich nicht selbst schützen können oder unzureichende familiäre Unterstützung erfahren. Eine der größten Gefahren geht nach wie vor vom Alkohol aus, deshalb verwundert es, dass gerade hier nicht hart reglementiert wurde. Auch nützen Verbote nichts, an die sich kaum einer hält, wie das durchaus wichtige Solariumverbot für Jugendliche. Ich arbeite mit Jugendlichen zusammen, die regelmäßig Solarien besuchen. Trotz des Verbots kannte jeder mindestens eines, zu dem er freien Zugang hatte. Bevor die Politik immer neue Ideen hervorbringt, wie sie die Jugend schützen möchte, sollten lieber bestehende Regeln konsequenter umgesetzt werden.
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