: Von Fans und Fußballdeppen
Fußball gucken auf der Dachterrasse oder beim überfüllten Lieblingsitaliener – Hauptsache freie Sicht auf den Fernseher und gute Stimmung. Die WM hat ein enormes geselliges Potenzial und macht sogar aus Fußballmuffeln leidenschaftliche Fans
VON ELKE SPANNER
Falls Sie noch eine Frage zur Fußball-Weltmeisterschaft haben, können Sie mich gerne anrufen. Ich kann sie wahrscheinlich beantworten, denn ich habe fast alle Spiele gesehen. Sie auch? Dann hätte ich Sie vor wenigen Tagen noch als Fußballdepp beschimpft. Ich hätte Ihnen unterstellt, dass Sie ab Anpfiff des Eröffnungsspiels nur noch grölen und nachts betrunken in meine Straße kotzen. Aber der Mensch lernt dazu.
Bevor es losging mit der WM, saß ich oft mit Freundinnen im Café und orakelte über das Grauen, das uns bevorstehen würde. Zunächst hatte ich mir vorgenommen, das Spektakel einfach zu ignorieren. Aber ich wohne in Hamburg nicht weit vom Heiligengeistfeld entfernt, und nachdem ich erfahren hatte, dass dort täglich ein Fanfest mit 50.000 Zuschauern sein sollte, war alle Entspanntheit vorbei. Menschenhorden würden dorthin strömen und anschließend durch unser Viertel ziehen. Sie würden die Sandkiste unseres Lieblingsspielplatzes mit Scherben übersäen, denn Fußballidioten sind kleine Kinder egal. Überall würde man in Schlägereien geraten, schließlich sind alle Fans Hooligans. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Monat Dauerregen.
Am Eröffnungstag dann strahlte die Sonne wie lange nicht mehr. Spontan luden wir uns bei Freunden auf ihre Dachterrasse in St. Pauli ein. Auf dem Weg dorthin fiel bereits das erste Tor für Deutschland, und Leuchtspurraketen stiegen hoch. „Siehste, was hab ich gesagt“, ächzte ich noch, ehe wir uns in Sicherheit brachten. Auf der Terrasse kreiste pausenlos ein Hubschrauber über uns, und wir rissen billige Witze über den Vorrat an Ohropax in der benachbarten Drogerie-Filiale. Das Spiel Deutschland – Costa Rica lief im Fernseher nebenher. Unterhaltsam daran fand ich nur, dass der vierjährige Sohn unserer Freunde bei jedem Tor für den FC St. Pauli jubelte. Doch der Ausblick war toll, es gab Pizza und Getränke, und ich fühlte mich wohl.
Gut gelaunt machten wir uns auf den Nachhauseweg, beschwingt von Sonne und Bier. Wir gestanden uns ein, einen schönen Nachmittag erlebt zu haben – trotz der WM. Oder vielleicht auch gerade wegen ihr? Hätten wir unsere Freunde auch angerufen, wäre nicht alle Welt an diesem Nachmittag zum Fußballgucken verabredet gewesen? Die Antwort war klar: nein. Schlagartig wurde uns klar, welches gesellige Potenzial in dieser Meisterschaft steckt. Endlich ein Anlass, die Nachbarn mal zum gemeinsamen Abend im Hof einzuladen oder Grillfeste im außerhalb gelegenen Kleingartenverein auszurichten. Wir waren noch nicht zu Hause angekommen und hatten im Geiste schon eine lange Liste an Events entwickelt, die wir die kommenden Wochen veranstalten wollten.
Zwei Abende später dann war ich mit einer früheren Kollegin verabredet. Die wohnt jetzt im Vorort und wollte den Abend in der Stadt nutzen, um einmal durch das Schanzenviertel zu flanieren. Ich hatte wenig Lust, wie sollte man sich in dem Trubel unterhalten können? Doch ich fügte mich, ich wollte keine Spielverderberin sein. Als wir schließlich einen Platz vor einer überfüllten Kneipe ergattert hatten, führten wir unser Gespräch noch ungefähr drei Minuten fort. Dann fiel mir auf, dass meine Freundin mir seit Minuten nicht einmal mehr in die Augen gesehen hatte, sondern konsequent leicht links daran vorbei. Antworten auf meine Fragen habe ich auch keine mehr bekommen, und wenn sie mal dazu ansetzte, brach sie zumeist mittendrin ab. Denn hinter mir stand der Fernseher. Mir wurde klar, dass ich nur zwei Möglichkeiten zur weiteren Abendgestaltung hatte: Fußball gucken oder langweilen. Ich entschied mich für das Erste.
So ging es weiter, Tag für Tag. Allabendlich fand ich mich in neuer Runde zum Fußballgucken wieder, und genoss es in vollen Zügen. Einen Abend saß ich auf der Bionadekiste vor einem Kiosk und verstand kein Wort, weil der Fernseher hinter der Scheibe des Schaufensters stand. Ein anderes Mal verzichtete ich bei meinem Lieblingsitaliener sogar aufs Essen, dem war die Pizza wenige Minuten nach Anpfiff wegen Überfüllung ausgegangen. Lokalitäten wurden ausschließlich nach dem Kriterium ausgesucht, wie die Sichtverhältnisse auf den Fernseher sind. Stand keiner bereit, kam das Lokal ohnehin nicht in Betracht.
Natürlich habe ich mich pflichtschuldig der Debatte um das Fahnenschwenken gewidmet. Wenn ich in den WM-Wahn schon einsteige, dachte ich, muss ich mich wenigstens damit auseinander setzen. Infrage gestellt hat mich das aber nicht. Mir ist im Grunde herzlich egal, wer ein Spiel gewinnt. Ich habe allerdings eine Methode entwickelt, einen Favoriten zu bestimmen, weil Fußballgucken so ganz ohne Mitfiebern doch langweilig ist. Vor Beginn eines Spieles habe ich meistens eine leichte Präferenz, die von der politischen Ausrichtung der mitspielenden Länder und der Farbe der Trikots abhängt. Für Kroatien zum Beispiel könnte ich niemals sein, schon aus historischen Gründen, und rotweißes Schachbrettmuster geht nun wirklich nicht. Es sei denn, Kroatien kassiert das erste Tor. In dem Moment leide ich nämlich immer furchtbar mit und feuere sofort die Mannschaft an, der nun die Niederlage droht. Erst nach dem Ausgleich haben alle wieder die Chance, meine Sympathie zu erwerben. Für wen ich schließlich jubele, hängt dann von der Ausstrahlung und Frisur der Spieler ab.
Der Höhepunkt meiner Leidenschaft dürfte der Abend gewesen sein, an dem ich fürs Theater verabredet war. Schon lange im voraus hatten wir einen Babysitter organisiert. Gründlich haben wir die Spielpläne aller Theater studiert, um den seltenen Ausgehabend als Paar mit dem besten Stück optimal auszukosten. Und dann sind wir in der Pause gegangen. Das Stück war öde – und parallel lief Italien gegen die USA.
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