„Quotengeilheit führt zur Prostitution“

Der Dopingskandal kann den Radsport heilen, glaubt der Leiter des Instituts für Berufsethik. Über krankmachende Geldgier und die Lust an der Qual

INTERVIEW MIRIAM BUNJES

taz: Gucken Sie noch Radsport, Herr Krolzig?

Martin Krolzig: Auf jeden Fall. Jetzt wird die Tour de France doch zum ersten Mal seit Jahren wieder spannend, und wir können die echten Helden des Radsports kennen lernen.

Wollen wir das denn noch?

Wir sollten es neu lernen. Ab sofort hat der Radsport die Chance, wieder ganz von vorne anzufangen. Ohne große Namen: Basso, Ullrich – das ganze System Radsport ist jetzt aufgebrochen und stürzt. Und das kann nur gut tun. In Italien hat eine Staatsanwältin vor Jahren das ganze Parteiensystem als korrupt entlarvt und die Akteure von der Bildfläche verschwinden lassen. Das war für Italien die Chance, neu anzufangen. Ebenso wie in der Natur Waldbrände nötig sind, damit neues Leben entsteht.

Zum Beispiel einen Radsport mit wiedergefundener Berufsethik. Wie ist die eigentlich verschwunden?

Stopp! Eine Berufsethik ist nicht per se gut. Ethos ist griechisch und heißt Sitte oder Brauch. Am Ethos kann man also die Handlungsmaxime eines Berufsstandes ablesen. Wie die Medizin die Zusammenhänge des menschlichen Körpers untersucht, analysiert die Berufsethik als Wissenschaft, wie Berufssysteme zusammenhängen und was sie krankmacht.

Welche krankmachenden Handlungsmaxime entdecken Sie im Radsport?

Wir wollen so viel Geld machen wie möglich. Die Sponsoren wollen so viel Fernsehpublikum wie möglich. Die Zuschauer wollen sehen, wie die Radfahrer sich quälen. Also wird die Tour de France immer schwerer, weil das die Quoten hochtreibt.

So schwer, dass es nur gedopt geht.

Auf jeden Fall in den Zeiten, die es bei den letzten Touren gab. Unter Radfahrern hat sich entsprechend das Ethos etabliert: Du darfst alles, du darfst dich nur nicht erwischen lassen. Sie wollen den Ruhm und deshalb die immer höheren Ansprüche meistern. Wenn die meisten dopen, dopst du halt mit. Und so durchdringt das Krankmachende das ganze System.

Ohne die Werbewirtschaft hätte es kein Doping gegeben?

Das ist sehr wahrscheinlich. Der Radsport wird von Sponsoren bezahlt. Welches Interesse hat ein Konzern wie T-Mobile? Kein sportliches. Der Radsport ist Werbeträger, um Kunden zu gewinnen. Und wenn die Kunden Quälerei sehen wollen, wird die Tour darauf angelegt und das Ganze wird immer weiter gepusht. Jetzt ist das System kollabiert.

Vermittelt wird der Radsport ja in erster Linie über die Medien...

aber die sind Teil des kranken Systems. Der unter Stasi verdacht stehende ARD-Mann Hagen Bosdorf ist ja das schönste Beispiel für das System wechselseitiger Abhängigkeiten. Aber klar, eigentlich sollte es eine kritische Instanz geben, die das System Radsport kontrolliert. Und eigentlich ist das die Aufgabe der Medien. Wenn die Journalisten selber zu den Sponsoren gehören, beschleunigt sich der Verfall der Berufsethik. Quotengeilheit führt eben zur Prostitution.

Ein Dopingskandal ist doch eher schädlich für die Quote .

Klar, deshalb ist das ja auch so eine große Chance, ein neues Berufsethos aufzubauen. Und das sollte eines sein, in dem die persönliche Integrität aller Beteiligten im Vordergrund steht. Beim Thema Doping werden die Sponsoren zur Zeit eher wie scheue Rehe.

Wie entsteht so ein integrer Berufsethos?

Durch Entflechtung und mehr Transparenz. Ein Dopinggesetz hat Deutschland ja interessanterweise nicht. Die Verstrickung zwischen Wirtschaftsinteressen, Medien und Sportlern könnte ein solches Gesetz aber sowieso nicht lösen. Retten könnte die Erfüllung dieser zwei Bedingungen. Erstens: Die Sponsorenverträge der Sportler müssen bis ins kleinste Detail öffentlich gemacht werden. Das dürfte sehr aufschlussreich sein, was körperlichen Anspruch und Wirklichkeit angeht. Und zweitens: Die Sportler müssen jeden Arztgang und jedes Medikament im Internet veröffentlichen. Ich höre die Datenschützer jetzt aufschreien: Persönlichkeitsrechte, Privatsphäre und so weiter. Aber: Wer beim Spitzensport mitspielen will, muss dazu bereit sein. Sonst sollte er es lassen.

Was bleibt von Jan Ullrich jetzt noch übrig?

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Helden. Ein Ostsaubermann, der frische ungedopte und sehr talentierte Junge vom Land nach den Dopingskandalen der 90er wird Opfer der Hybris. Und Hochmut kommt immer vor dem Fall. Er wollte mehr und um es mit Wilhelm Busch zu sagen: „Aber wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.“Jetzt ist Zeit für etwas Neues und wegen dieser Aufbruchstimmung werde ich dieses Jahr richtig viel Radsport gucken.