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„Wir selbst sind unsere größten Feinde“

PERSISCHE HEIMAT Azar Nafisi, Autorin und Literaturprofessorin, darf in Iran weder publizieren noch lehren. In den USA ist nun ihr zweites Buch erschienen. Ein Gespräch über ihre Familie, Habermas, Böll und Firdausi und den Selbstbetrug der iranischen Gesellschaft

Azar Nafisi

■ 1955 in Iran geboren, unterrichtete englische Literatur, weigerte sich, den Schleier zu tragen, erhielt Lehrverbot und wanderte 1997 in die USA aus, wo sie Professorin für englische Literatur ist.

■ 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, den Bestseller „Lolita lesen in Teheran“, der in 32 Sprachen übersetzt wurde.

■ Auf Deutsch erschien gerade ihr zweiter Roman „Die schönen Lügen meiner Mutter“ (DVA, München 2010, 400 S., 22,95 Euro)

INTERVIEW ANTJE PASSENHEIM

taz: Frau Nafisi, in Ihrer Familie, so schreiben Sie in Ihrem neuen Buch, liebte man es, Geschichten zu erzählen. Doch erst nach dem Tod Ihrer Eltern haben Sie sich an Ihre eigene gewagt. Warum erst jetzt?

Azar Nafisi: Als meine Eltern noch gelebt haben, war ich so eingebunden in die Beziehung zu ihnen, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, darüber zu schreiben. Der Tod schafft zweierlei: Distanz auf der einen Seite, und auf der anderen willst du wieder einfangen, was du verloren hast. Nach dem Tod meiner Eltern musste ich dauernd an sie denken. An sie und meine komplizierte Beziehung zu ihnen. Ich wollte die Konversation mit ihnen wiederherstellen. Das geht bei mir durch das Schreiben.

„Die schönen Lügen meiner Mutter“ ist eine doppelte Auseinandersetzung …

Es ist ein Buch über meine Eltern und eines über den Iran. Beide habe ich verlassen. Beide habe ich geliebt.

Und um beider Liebe haben Sie Ihr Leben lang gekämpft.

Meine Eltern! Während meiner ganzen Kindheit, eigentlich bis zu ihrem Tod, war ich abhängig von ihrer Anerkennung. Vor allem der meiner Mutter. Ich glaube, dass sie mich auf ihre Weise geliebt hat. Aber sie gab mir ständig das Gefühl, dass sie mich nicht wirklich anerkannte. Was immer ich tat, ich tat es nicht so, wie sie es von mir erwartete. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich versucht so zu handeln, dass sie mich nicht nur liebte, sondern mich als menschliches Wesen für voll nahm. Es war so, als ob ich so lange eine unfertige Person blieb, bis sie sagte: okay.

Irgendwann begriff ich, dass ich auf diese Weise immer unfertig geblieben wäre. Wir müssen uns mit denen, die wir lieben, auseinandersetzen – und zwar nicht auf ihrer Basis, sondern auf unserer eigenen. Der Wunsch nach Anerkennung kann also fatal sein.

Ihr Vater litt in dieser Beziehung oft mit Ihnen. Er gab Ihnen Anerkennung, Wärme und noch etwas Entscheidendes: die Liebe zur Literatur.

Die Liebe zur Literatur war die wichtigste Sache, die mein Vater mir mitgab. Er brachte mir bei, die Verbindung zur Welt durch meine Vorstellungskraft zu schaffen. Wenn du das tust, kannst du die Welt so sehen, wie du sie niemals zuvor gesehen hast. Mein Vater hat mir immer erzählt, dass der Iran ein uraltes Land ist, das andauernd von anderen Ländern überfallen wurde. Für uns ist es sehr schwer zu sagen, was der Iran eigentlich ist. Aber wir können unsere Identität, das, was uns mit dem Iran von vor 3.000 Jahren verbindet, durch unsere Dichter finden. Firdausi etwa, unseren großen Nationaldichter.

In diesem Jahr feiern wir Firdausi und sein berühmtes „Buch der Könige“, das vor 1.000 Jahren erschien. Firdausi hat uns durch seine Verse mit unserer mythologischen Vergangenheit verbunden. Für mich selber wurde der Iran durch seine Poeten eine transportable Welt. Jemand wie ich, der die meiste Zeit zwischen zwei Welten lebt, begreift: Dein Land ist eine tragbare Welt. Sie besteht aus deinen Erinnerungen, deiner Vorstellungskraft und Menschen, die an dieselben Prinzipien glauben wie man selbst.

Den real existierenden Iran haben Sie in Ihrer Familie sehr unterschiedlich erlebt. Als Tochter des Bürgermeisters von Teheran und einer Mutter, die als eine der ersten Frauen im iranischen Parlament sitzt, sind Sie privilegiert und modern aufgewachsen. Als Sie nach ihrem Studium in den USA 1979 im Jahr der Mullah-Revolution zurück in ihre Heimat kamen, wurden Sie plötzlich Zeitzeugin eines Landes, in dem sich die Uhren wieder rückwärts drehten.

Für mich ist es interessant und ironisch zugleich, dass die Generationen meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter am Anfang des vergangenen Jahrhunderts für dieselben Rechte gekämpft haben, für die die Generation meiner Tochter heute wieder kämpfen muss. Die Situation der Jüngeren ist allerdings anders: Denn anders als für die Großmüttergeneration, gibt es für diese jungen Frauen eine iranische Vergangenheit, in der die Frauen schon einmal frei waren.

Viele Leute verbuchen all diese Dinge unter „westlich“. Ich akzeptiere das nicht. Ich denke, Freiheit ist nicht Ost oder West – Freiheit ist universal. Viele Frauen in der Generation meiner Tochter wurden eingesperrt oder gefoltert. Nicht etwa, weil sie politisch gegen das Regime waren, sondern schlichtweg, weil sie freie Frauen sein wollten. Dieser Kampf für die Freiheit ist kein politischer Kampf – es ist ein existenzieller.

In diesem Kampf sprechen Sie der Literatur, vor allem der westlichen, eine hohe Bedeutung zu.

Definitiv. Literatur und Philosophie spielen immer eine große Rolle. Nicht zuletzt als ein verbindendes Element zwischen den Kulturen. Goethe liebte den persischen Dichter Hafis und schrieb durch ihn inspiriert seinen „Diwan“. Auch in „meinem“ Iran waren wir euch durch zahlreiche zeitgenössische Literaten verbunden. Ich habe zum Beispiel jedes Buch von Heinrich Böll gelesen. Am meisten hat mich „Ansichten eines Clowns“ gefesselt. Darin hat mich vor allem die Aussage fasziniert, dass die Grausamkeit nicht automatisch endet, wenn es mit einem Regime zu Ende geht.

Wir lasen Böll, Grass … Wie in Osteuropa ist die Literatur im Iran ein subversiver Ort geworden. Unser heutiges Regime sperrt Menschen ins Gefängnis oder veranstaltet mit ihnen Schauprozesse – nicht etwa weil sie politisch aktiv sind, sondern weil sie beispielsweise Kant gelesen haben. Sie haben Spinoza gelesen, Karl Popper, Hannah Arendt. Also sind es die Literatur und die Philosophie, die da vor Gericht stehen.

Ich denke, die Menschen im Westen vergessen das oft. Sie sollten sich immer wieder bewusst machen, wie wichtig die Literatur und das Gedankengut sind. Nicht Gewehre oder Soldaten sind gefährlich für Herrn Ahmadinedschad. Es sind Spinoza und Böll und Nabokov und unsere eigenen Schriftsteller. Das Regime hat die junge iranische Generation durch seine Unterdrückung erst neugierig auf diese andere Welt gemacht. Sie sind enttäuscht von den Machthabern und wenden sich nun an die westlichen Philosophen. Habermas etwa. Viele meiner amerikanischen Studenten hier kennen ihn nicht. Aber im Iran wird er empfangen wie ein Rockstar.

Das sieht das Mullah-Regime gar nicht gerne. Ajatollah Ali Chamenei warnt vor einer Invasion der westlichen Kultur.

Tyrannen – ganz gleich ob sie Hitler heißen oder Stalin oder Chomeini oder Chávez – wissen genau, wer ihre Feinde sind. Also waren ihre ersten Ziele im Iran die Kultur, die Menschenrechte und die Rechte des Einzelnen. Frauen und Minderheiten gehörten zu ihren Hauptopfern. Wie in China gab es eine Kulturrevolution. Durch sie sollten Menschen mundtot gemacht werden. Aber solange es die Universitäten gibt mit ihren Büchern, werden die Bücher gefährlich sein können. Denn genau hier werden die Opfer stark: Wo sie merken, dass die Gewalt gegen sie nicht aus der Stärke des Regimes resultiert, sondern aus seiner Angst.

Als Literaturprofessorin an der Universität in Teheran, der Freien Islamischen Universität und der Universität von Allameh Tabatabai machten Sie dem Regime auch Angst. Sie wollten sich weder Schleier noch Maulkorb verpassen lassen und bekamen Lehrverbot. Sie zogen die Konsequenz und wanderten 1997 nach Washington aus.

Ich blieb 18 Jahre im Iran. Solange ich schreiben und nach bestem Gewissen lehren konnte, konnte ich bleiben. Aber dann kam der Punkt, an dem ich nicht mehr an die Universität konnte. Und ich konnte nicht das Buch schreiben, das ich damals schreiben wollte: „Lolita lesen in Teheran“. Ich fühlte, dass, wenn ich weder schreiben noch lehren kann, ich auch nicht leben kann. Ironischerweise musste ich das Land verlassen, um von hier aus zu den Menschen in meiner Heimat zu sprechen. Viele meiner Kollegen werden zu diesem Schritt gezwungen. Die, die geblieben sind, dürfen meist nicht offen sprechen oder sitzen im Gefängnis. Aber die Erfahrung hat uns gelehrt: Diese Gewalt kann nicht ewig fortdauern.

Mit Ihren Eltern, vor allem mit Ihrer Mutter, haben Sie sich durch Ihr Buch versöhnt. Wie sieht es mit Ihrer Heimat aus?

Da komme ich noch mal auf den Dichter Firdausi zurück. Eines der wichtigen Dinge, die er uns zeigt, ist, dass die Feinde von außen uns niemals hätten überfallen können, wenn wir nicht Feinde in unserer eigenen Mitte gehabt hätten. Dass wir ihnen selber die Tore geöffnet haben. Es war für mich sehr wichtig, zu begreifen, dass die heutige Situation des Iran unser eigener Fehler ist. Und dass wir selbst unsere größten Feinde sind.

Ich sehe das so wie mein Vater, der mir immer gesagt hat: Die größten Invasoren unseres Landes waren nicht die Araber, nicht die Mongolen, nicht die Griechen, nicht die Römer. Es waren Iraner. Es war dieses Regime. Die Machthaber kamen als Invasoren, sie vernichteten unsere Kultur, unsere Traditionen, unsere Religion, unsere Vergangenheit. Dies ist für mich die schlimmste Form des Betrugs. Du kannst es ertragen, von Fremden betrogen zu werden – aber nicht von denen, die du liebst.

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