: Der Mann mit dem Gras
DROGENHANDEL Jeder zehnte Berliner kifft, mancher täglich. Auf dem Schwarzmarkt werden große Mengen Cannabis verkauft. Zur Hanfparade ein Hausbesuch beim Dealer
■ Unter dem Motto „Cannabis ist Weltkultur!“ zieht am Samstag die traditionelle Hanfparade durch die Innenstadt. Ziel sei es, „das Wissen um die Kulturpflanze Hanf und die Legalisierung ihrer Nutzung als Rohstoff, Medizin und Genussmittel auf die politische Tagesordnung zu setzen“, teilten die Veranstalter mit. Laut Polizei sind 900 Teilnehmer angemeldet. Nach einer Kundgebung um 13 Uhr auf dem Alexanderplatz ist laut den Angaben ein Protestmarsch durch die Innenstadt geplant (siehe Karte). Die Abschlusskundgebung soll auf der Scheidemannstraße stattfinden, direkt am Reichtagsgebäude. Die anschließende Party findet in der Arena in Treptow statt. (ddp)
VON ANTJE LANG-LENDORFF
Auf dem alten Sofa neben der Tür verbringt Michael Kiener* sein halbes Leben. Im halbdunklen Durchgangszimmer sitzt er jeden Nachmittag und jeden Abend, ein bisschen in sich zusammengesunken, Bauch und Beine in den Raum gestreckt. Neben sich auf dem Tisch hat er alles, was er braucht: das Glas mit Rotwein, eine Packung Schwarzer Krauser und vor allem die runden Dosen mit dem Stoff. Ein Stammkunde reicht ein paar Scheine herüber. „Für 60 Euro Spinat bitte“, sagt er. Michael Kiener öffnet eine Dose und häuft vorsichtig Gras auf eine kleine digitale Waage. Seit 20 Jahren komme er regelmäßig vorbei, erzählt der Kunde. „Zu Michael gehen ist wie zu Edeka.“
Kiener ist Dealer. In seiner Zweizimmerwohnung in einem Schöneberger Altbau verkauft der 51-Jährige Haschisch und Marihuana. Im Schnitt kommen 13 Kunden pro Abend, schätzt Kiener. „Das hängt aber auch vom Geldbeutel ab. Wenn am Monatsende Hartz IV ausgezahlt wird, rennen sie mir manchmal die Bude ein.“
Es muss in Berlin viele geben wie Kiener, die Freunde und Bekannte mit Stoff versorgen. Denn Cannabiskonsum ist weit verbreitet: In einer repräsentativen Befragung des Münchner Instituts für Therapieforschung von 2008 gab jeder Zehnte an, in den letzten zwölf Monaten Haschisch oder Gras genommen zu haben – die Verfasser der Studie gehen von mehr als 230.000 Kiffern in der Stadt aus. Jeder Fünfte von ihnen konsumierte Cannabis mindestens einmal in der Woche. 10 Prozent kifften nach den Angaben fast täglich. Und rund 5 Prozent sagten von sich selbst, ihr Konsum sei außer Kontrolle geraten.
Der Stoff für diesen Verbrauch muss herangeschafft werden. „Beim Handel mit Hanf gibt es semiprofessionelle Strukturen“, sagt Jürgen Schaffranek vom Verein Gangway, der über 20 Jahre als Streetworker auch im Drogenmilieu gearbeitet hat. Mit dem Markt härterer Drogen hat der Cannabis-Handel seiner Einschätzung nach wenig zu tun. Gras und Hasch würden im Kiffermilieu von einem zum nächsten gegeben, „Ameisenverkehr“ nennt Schaffranek das. Daneben gebe es den Handel, der von Türkisch- und Arabischstämmigen und von Schwarzafrikanern organisiert werde – die Hasch und Gras etwa in der Hasenheide oder im Görlitzer Park anbieten. Die Polizei, beim Thema Drogenhandel recht zugeknöpft, will das nicht bestätigen. Es gebe Rauschgifthändler, die nur Cannabis oder nur harte Drogen verkauften, manche böten aber auch beides an.
Für Steffen Geyer, der Kontakt zu Produzenten und Konsumenten hat und die Hanfparade mitorganisiert, ist die offene Szene in den Parks nur ein kleiner Ausschnitt. „Ich wette, dass zwei Drittel des Cannabis im Freundeskreis vertrieben werden“, sagt er. Auf den Straßenhandel ließen sich nur Touristen und Neuberliner ein. „Die Qualität ist oft schlechter, der Preis höher.“
Das Radio dudelt, während Kiener das Gras aus der Dose pult. Er sieht ein bisschen aus wie ein Hippie, wie er da sitzt, die schwarze Mähne im Nacken. Die Lippen zwischen den Bartstoppeln sind lila vom Wein. Auf die Frage, ob er einen Beruf gelernt hat, macht er nur eine knappe Handbewegung in Richtung der Dosen. „Na das.“
Ursprünglich stammt Kiener aus Franken, man hört es noch. Er habe mittlere Reife, erzählt er. Eine Ausbildung habe er damals zu spießig gefunden: „Ich bin viel gereist.“ Um der Wehrpflicht zu entgehen, sei er irgendwann nach Westberlin gezogen. Eine Zeitlang habe er als ABM-Kraft in einer Amtskantine gearbeitet, erzählt er. „Nach Feierabend habe ich aber weiter verkauft.“
Kiener ist ein zuverlässiger Geschäftsmann. Jeden Tag zwischen 16 und 23 Uhr können die Kunden vorbeikommen. Ein Gramm kostet je nach Qualität zwischen 5 Euro und 7,50 Euro. Er selbst erhalte das Cannabis von einem Kumpel, der den Stoff per Kurier aus den Niederlanden beziehe. So ungefähr laufe das ab. Mehr will er nicht sagen. „Nur so viel: Ich habe seit Jahren ein stabiles Konstrukt.“
Importiertes Cannabis in Berlin stamme meistens aus den Niederlanden, glaubt Hanf-Aktivist Steffen Geyer. „Allerdings nimmt der Heimanbau zu“, so seine Einschätzung. Das sei eine effektive Methode, um Verunreinigungen zu vermeiden. Jürgen Schaffranek von Gangway erzählt, dass gerade in den neuen Ländern vermehrt Cannabis gezüchtet werde. „Dort gibt es viele leere Hallen, in denen man Pflanzen aufziehen kann, ohne dass das per Luftaufnahme zu sehen ist.“ Laut Polizei stammt das in Berlin sichergestellte Cannabis – nach wie vor – zum größten Teil aus ausländischer Produktion.
Es klingelt. Kiener dreht sich in aller Ruhe die Zigarette zu Ende, dann öffnet er. Die unterschiedlichsten Leute nehmen auf seinen abgewetzten Sesseln und Sofas Platz: ein Siemens-Mitarbeiter in kariertem Hemd und seine erwachsene Tochter. Eine Schwarze mit Rastahaaren. Ein Amerikaner, der über die Geschichte der Sklaverei referiert. Eile und Gras passen nicht zusammen: Erst wird in aller Ruhe geplaudert, dann kommt man zum Geschäft. „Wie immer“, „für 80“, „für 50“, so die Stichwörter.
5.000 bis 6.000 Euro verdiene er auf diese Weise im Monat, erzählt Kiener. Das ganz große Geld sei das nicht, findet er. „Verkaufst du Schnürsenkel, verdienst du Schnürsenkel. Verkaufst du Häuser, verdienst du Häuser.“ Trotzdem wolle er mit härteren Drogen nichts zu tun haben. „Haschisch kann ich vertreten, Chemikalien nicht.“ Er kenne sich damit auch zu wenig aus. „Das ist nicht mein Ding.“
Man sieht an seiner Bleibe: Im Luxus lebt Kiener nicht. „Ich bin nicht materialistisch“, sagt er von sich. Das Geld schicke er zum Großteil nach Honduras, wo seine Frau wohne. Auf einer Reise habe er sie kennengelernt. Drei Kinder habe er mit ihr, denen finanziere er die Ausbildung. Er deutet auf das Foto eines dunkelhaarigen Jungen an der Wand neben seinem Tisch. „Mein Sohn.“
Es ist nicht gerade ein gesundes Leben, das Kiener führt. Kürzlich, als er etwas geraucht und getrunken hatte, wurde ihm schwindlig. Danach zitterte die linke Hand. Später stellte sich heraus: Es war ein kleiner Schlaganfall. Eine blöde Sache, vor allem weil Kiener nicht sozialversichert ist. Aber auch dafür gibt es in seiner Welt eine Lösung: Einer seiner Kunden ist Arzt, erzählt er. Zu dem könne er in die Praxis, der besorge ihm auch die Tabletten. Man hilft sich eben.
Wieder klingelt es. Ein älterer Mann mit Mütze kommt herein. Kaum vorstellbar, dass Kiener bei dem Durchgangsverkehr jahrzehntelang kein Problem hatte mit der Polizei. „Ich habe Glück“, sagt er. Der direkte Nachbar sei Brite und selten da, die anderen im Haus störten sich offenbar nicht am Betrieb. „In Steglitz, wo die Omas hinter der Gardine sitzen, würde das nicht gehen.“ Der Gast räuspert sich. „Kommen wir zum Geschäft.“
* Name und Ort geändert
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