: Das Gegengewicht zur eigenen Existenz
TABLEAU Im „Blutbuchenfest“ erzählt Martin Mosebach quecksilbrig von Bürgern, die sich im Zentrum ihrer Welt wähnen, aber in eine museale Nische abgerutscht sind
VON HANS-JOST WEYANDT
Nun hat also auch die deutsche Literaturszene eine Handy-Affäre. Außer dem kleinen gemeinsamen Nenner verbindet natürlich nichts die NSA-Attacke auf Merkels Privatsphäre mit Martin Mosebachs Übergriff auf die Unantastbarkeit der Zeitläufte: Schon in den frühen Neunzigern lässt er die Figuren seines neuen Romans mobil telefonieren. Als „bewusster Anachronismus“ von der Zeit verteidigt, als „unbewusste Bankrotterklärung“ von der FAZ verurteilt, stehen die Positionen konträr gegenüber und ergänzen sich doch erstaunlicherweise bei der Beschreibung dieses Romans, in dem sich die Bilder von Zeiten und Räumen verschieben, teils ins Unentschiedene hinein.
Die Irritation beginnt beim Titel. „Das Blutbuchenfest“ führt, seines archaischen Anklangs zum Trotz, in die Gegenwart, jedenfalls fast, und zeichnet ein für den Autor Martin Mosebach typisches Gesellschaftsbild des modernen Frankfurter Bürgertums, allerdings leicht verschoben in ein „Damals“, wie es der Erzähler Anfang der neunziger Jahre erlebt haben will. Und wie es spätestens seit Eckhard Henscheids „Vollidioten“ zu einer lokalen literarischen Tradition geworden ist, wählt Mosebach ein Wirtshaus zum Zentrum, um den halbseidenen Glanz seiner Bagage beim Versumpfen in aller schillernd schwankenden Pracht erblühen zu lassen.
Doch wenn der blass-beige Banker Dr. Glück, der abgebrannte Werber Rotzoff, der hohl raunende Kulturimpressario Wereschnikoff, der Immobilienhai Breegen und ihre Saufkumpane im Stammlokal „Meringer“ eintreffen, dann zeigen sich allenfalls traurige Wiedergänger einstiger Bürgerpotenz. Mit wenigen scharfen Strichen nur könnte dieses schräge Ensemble recht windiger Gestalten kenntlich gemacht werden als bedenklich wankender Anachronismus, der sich seinen historischen Bankrott schönsäuft.
Allerdings fasziniert den Ich-Erzähler das Sfmuato, die Kunst der verwischten Darstellung, stärker als wuchtig behauptende Konturen, und er schreibt, als wolle er Tableau vivants komponieren, die hinüberblicken aus einer anderen Zeit: mopsfidele alte Säcke, todesstarr, ruckartig folgt eine Bewegung. Unversehens gelingen ihm dynamisch fließende Genreszenen, satirisch und deftig, zugleich folkloristisch, marginal wie die Figuren, die sich im Zentrum ihrer Welt wähnen, aber zugleich in eine museale Nische abgerutscht sind.
Unvorhersehbar wechselt er die Schauplätze, besucht Villen im Frankfurter Westend, taucht ein in Haushalte und Interieurs, die eine Epochengalerie bürgerlichen Lebens ergeben, und trifft dort Charaktere, allesamt Frauen, die sich ihres Werts gewiss zu sein scheinen, selbst dann, wenn er auf unsicheren Wechseln beruht: Die millionenschwere Frau Breegen putzt mit nie erlahmenden Furor gegen die Erinnerung an die Schmach einer Pfändung an, die sich wie ein Grauschleier auf die Einrichtung gelegt zu haben scheint. Ihr altmodisches Prunkkleid ist so dicht mit klimpernden Kristallen geschmückt wie die zuweilen arg gezierte Sprache mit auserlesenen Adjektiven, doch was als kalte Karikatur einer typischen Siebziger-Jahre-Hausfrau beginnt, entwickelt zu einem respektvollen Psychogramm. Das ist überraschend, denn so sehr dieser Erzähler empfänglich ist für das Schöne, Besondere, so wenig schön, auch eigenständig ist zunächst sein Blick. Er taxiert, nervös, unsicher, lauernd, gierig, der Blick eines gebildeten Underdogs, doch ungleich facettenreich, auch selbstironisch.
Dieser Erzähler ist eine große Erfindung. Er ist Teil der „Meringer“-Runde, doch weder als Akteur noch als konturierte Figur tritt er in Erscheinung, manchmal löst sich sein Körper vollständig auf. Dann wechselt der Ich- zum auktorialen Erzähler, einmal inmitten eines Kapitels, und als Erzähler ist er so neugierig wie inkonsistent. Diese Quecksilbrigkeit hat etwas Unheimliches, fast Teuflisches, zugleich aber in ihrer suchenden Bewegung etwas Menschliches, und sie reflektiert die Ungewissheit des kompletten Romans, der von einem Mangel erzählt, vom vermissten Gegengewicht zur eigenen Existenz, der ihren Wert bemisst. Doch wenn es um Gegenwerte geht, geht es natürlich vor allem um Geld.
Der Mangel an Geld treibt die Handlung voran. Es sind humoristische Glanzstücke, wie die Habenichtse im Wartestand aus dem längst verplemperten Kapital der Vergangenheit Wechsel auf die Zukunft ausstellen wollen. Dabei sind alle Mittel erlaubt, auch jene, die es noch gar nicht geben kann. Dass munter in Handys gebabbelt wird, relativiert sich, wenn der verschuldete Grafiker Rotzoff Eintrittsgeld für eine vielleicht irgendwann stattfindende Party kassiert, die von seinen Schuldnern bezahlt werden soll.
Und der Erzähler? Lernt Ivana kennen. Ivana, die Putzfrau, kennt alle Haushalte dieses Romans bis in den letzten Winkel und die intimsten Gewohnheiten ihrer Bewohner, eine stolze Kroatin aus Bosnien, die den Wert ihrer Arbeit am Stundenlohn bemisst und der die Berechtigung ihrer Existenz genauso fraglos ist wie die Stärke ihres Körpers. In ihr findet der Erzähler eine Gegenfigur, der er folgt bis in ihre Heimat. Das postarchaische Bosnien wird zur Gegenwelt in dieser kühn entworfenen Romanlandschaft, die zerklüftet ist wie der Balkan. Die Bosnienkapitel sind genau, insistierend, voller Wissbegier, Zärtlichkeit, Erzählenergie, gepaart mit Geduld und Respekt. Der Erzähler sieht in der Fremde, dass manche Veränderungen viel zu groß sein können, um sie begreifen zu können. Plötzlich geht es um Geburt und Tod, um Liebe, Unglück und Trauer, in Frankfurt findet ein irres Blutbuchenfest statt, und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien fordert sein erstes Opfer.
■ Martin Mosebach: „Das Blutbuchenfest“. Hanser, München 2014, 448 Seiten, 24,90 Euro
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