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Einfach in den Hafen springen

… und nicht wiederkommen: Der „Jahrmarkt des Abschieds“ in der Hafencity spielt mit dem Hang zur wasserrandbedingten Sentimentalität und versteht sich doch als Kur wider die Traurigkeit

von PETRA SCHELLEN

Ernst nehmen gilt nicht. Denn Abschied, das muss auch Abschied von der Sucht sein, sich als Opfer zu empfinden. Abschied vom Hang zum Dramatisieren. Abschied von der Gewohnheit, Abschiede als endgültig anzusehen. Leben ist die Wiederkehr des Gleichen, ist Wiederholung von Ritualen und Vermeidungsstrategien. „Ich gehe gar nicht erst weg, denn ich bin sicher, ich würde nie wiederkommen“, ruft folgerichtig auf dem „Jahrmarkt des Abschieds“ ein Frau mit Blümchenbalkon. Eine konsequente Haltung, wenn man bedenkt, welche Unbilden einen in der Ferne ereilen können. Ihre Tochter hat die Dame erschlagen, denn „die wollte weg. Das musste ich verhindern.“

Als frei flottierende Szenencollage kommt auch in diesem Jahr Thomas Matschoß‘ Inszenierung daher, formal eine Mischung aus „Rattenfänger von Hameln“ und Spiel im Spiel: Von der Kasperle-Bude zum Lagerfeuer, von den „traurigsten Abschieden der Filmgeschichte“ bis zum jiddischen Sängerpaar reichen die Darbietungen, die sich zurzeit abends in der Hafencity erleben lassen, Anspielungen auf Ein- und Auswanderertum inklusive: Wie soll man zum Beispiel die Europa-Tauglichkeit afrikanischer Einwanderer testen, fragt sich ein bayerisches Paar, das ausführlichst Möglichkeiten entsprechender Recherche erörtert.

Fließend ist in dem Spektakel die Grenze zwischen Zuschauer und Akteur. „Nein, mitspielen müssen Sie nicht“, ruft zwar der Conférencier. „Wir sind alle da!“, schreien und seine blauen Höckerchen hochhalten muss das Publikum trotzdem. Und wenn einem auf dem sandigen Gelände immer wieder laut streitende Paare begegnen, wenn man von einer Station zur anderen gelockt wird und nie recht weiß, wo es gerade interessanter ist, dann wirkt das alles wie ein Wanderzirkus, der sein Publikum laufend neu generiert.

Ein ambivalentes Unterfangen: Allenfalls ein Hauch von Lächerlichkeit haftet dem Lotsenchor an, der im grünen Boot vorbeigleitend verschiedene Shanties intoniert. Antiquiertes Relikt und Anspielung auf die maritime Sentimentalität von Hafengegenden, gegen die man sich eigentlich immun wähnt. Und doch kann man nicht anders, als mitzusingen und hinterherzuwinken. Und der Schauspieler, der nach längerem Dialog ins Wasser springt, ein nahes Ruderboot ergreift und sodann entschwindet? Sorgenvoll wird er verabschiedet, aber nur kurz: Schon bald darauf wendet man sich anderem zu.

Auch der finale Abschied gerät ins Visier, als die Schauspieler minutenlang an einer Reihe von Kreuzen verharren. Doch es wird schon wieder getanzt, nur Minuten später. Ist es ein Totentanz, eine Anspielung auf das Schicksalsrad oder Verkörperung des stoischen „carpe diem“? Man weiß es nicht recht

Weitere Vorstellungen bis 19. 8. am Viewpoint in der Hafencity. Infos: www.jahrmarktdesabschieds.de

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