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Die Jeder-für-sich-Bewegung

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 9 und Schluss): Für manche Gewerkschaftler bildet das Prekariat bereits das Proletariat des 21. Jahrhunderts. Kann es dieser sozialen Bewegung gelingen, langfristig Widerstand gegen die Ausbeutung zu organisieren?

von FELIX LEE

So sieht also Berlins Superheld aus: Er ist ein blaugrünes krakenhaftes Wesen aus Pappmaché, das auf dem Kopf eine ausgefranste Badezimmermatte trägt. Er hat genügend Tentakel, um in einem Arm einen Laptop zu tragen, mit dem zweiten Arm mit einem Wischmopp herum zu fuchteln und trotzdem mit den Armen drei und vier die Menschenmassen herbeizuwinken. Durchaus erfolgreich: 8.000 Menschen kamen zur Mayday-Parade, die am diesjährigen 1. Mai zum ersten Mal in Berlin stattfand.

In Mailand heißt die Symbolfigur der Prekarisierten „San Precario“, bei den StudentInnenprotesten gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes in Paris spukte ein Wesen namens „Super Flex“ durch die Straßen. Und in Berlin heißt sie „Superprekaria“. Nach dem 1. Mai wurde das Wesen zwar nicht mehr gesichtet. Und wer 1-Euro-Jobber, Dauerpraktikanten, illegalisierte Putzfrauen oder unterbezahlte Grafikdesigner fragt, ob sie schon einmal von Superprekaria gehört haben, erntet Kopfschütteln. Doch auch wenn die Symbolfigur noch unbekannt ist – das Phänomen, das sie verkörpert, ist es nicht mehr: Die Zeit spricht bereits von einer „neuen Form einer ausgebeuteten Klasse“. Spiegel Online rätselt über das Entstehen einer „neuen Internationalen“. Und linke Gewerkschafter, die jahrzehntelang die fehlende Solidarität der Unterprivilegierten angeprangert haben, bekommen leuchtende Augen, sobald das Wort „Prekarisierung“ fällt. Sie beschwören bereits ein neues Klassenbewusstsein herauf. Das Prekariat des 21. Jahrhunderts – eine Analogie zum Proletariat des vorigen?

„Arbeitslos? Das waren für mich immer die anderen“, sagt Anja Vehr*. Die 36-Jährige hat Kulturarbeit studiert, arbeitete zwei Jahre bei einer kleinen Veranstaltungsagentur – doch plötzlich machte der Laden dicht. Vier Jahre ist sie mittlerweile ohne festen Job. Sie hangelte sich zunächst von einer Auftragsarbeit zur nächsten. Jetzt lebt sie von Hartz IV. „Anfangs empfand ich es als mein ganz persönliches Problem“, erzählt sie. „Bis ich merkte, dass die halbe Stadt verarmt.“ Von Prekarisierung habe sie zwar noch nichts gehört. „Klingt spannend“, sagt sie jedoch. „Warum nicht gemeinsam dagegen auf die Straße gehen?“

Kapital vs. Arbeit

Mehr als 150 Jahre hat der von Karl Marx aufgegriffene Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit die westlichen Industriegesellschaften geprägt. Die Fronten waren klar. Auf der einen Seite gab es die Repräsentanten des Kapitals, die die Produktion zum Zweck der Kapitalverwertung verwalteten. Auf der anderen Seite standen die LohnarbeiterInnen, die durch ihr Schuften den dafür notwendigen „Mehrwert“ erbrachten.

Die Arbeiterbewegung entstand, als sich die Lohnarbeiter zusammenschlossen, um für ihre Interessen gemeinsam zu kämpfen. Es war ein weiter Weg bis dahin: Wie lange haben die Arbeiter in den amerikanischen Fabriken streiken müssen, bis die Firmenbosse die Gewerkschaften als Verhandlungspartner akzeptieren mussten? Und auch im Deutschen Reich der Jahrhundertwende musste mancher Arbeiter sein Leben lassen, bis die ausgebeuteten LohnarbeiterInnen sich wirklich zu wehren wussten.

Am Gegensatz von Kapital und Arbeit hat sich im Prinzip nichts geändert. Was jedoch im Laufe der Zeit verloren ging, war das kollektive Bewusstsein. Die Arbeiterbewegung verlor in dem Maße an identitätsstiftenden Merkmalen, wie die Lohnarbeiter selbst Teil der bürgerlichen Gesellschaft wurden. Niemand schwafelt heute noch vom „revolutionären Geist“, der doch für die Konstituierung der Klasse eine wichtige Rolle spielt. Aus der Geborgenheit der Bürgerlichkeit werden die Prekarisierten von heute wieder ausgestoßen. Einst wohl gehütete Kinder der Mittelschicht haben sie es plötzlich mit Proletarisierung und Existenzängsten zu tun. Die wenigsten 30-Jährigen von heute können auf eine geradlinige Erwerbsarbeit blicken. Ganzen Generationen droht der Abstieg, glauben Skeptiker.

Doch wie könnten sie sich organisieren? Die Gewerkschaften sind viel zu stark den traditionellen Beschäftigungsverhältnissen verhaftet und kaum in der Lage, auf die neuen Formen des Arbeitslebens einzugehen. Auch wissen sie keine Antwort auf die Entwicklung hin zu schrumpfenden Kernbelegschaften, die neben einer wachsenden Zahl von Teilzeit- und Leiharbeitskräften zu flexiblen Konditionen bestehen.

Wenig Solidarität

Aber andere Organisationsformen sind für die Betroffenen schwer möglich, zumal die neuen Arbeitsformen den Personalleitern eine Vielzahl von Instrumentarien bietet, um die Konkurrenz unter den MitarbeiterInnen zu erhöhen. Nicht als Verbündete sehen sich Kollegen, sondern als Widersacher.

Ob ein Klassenbewusstsein der Prekarisierten entsteht, hängt noch von anderen Faktoren ab. „Es hat einen analytischen Wert, eine Kategorie zu verwenden, die klar macht, dass es lebensmilieuübergreifend prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse gibt“, sagt Dieter Rucht, Bewegungsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. „Das ist aber noch lange keine soziale Gemeinsamkeit.“ Rucht weist auf den geringen Organisierungsgrad der Betroffenen hin. Während sich Arbeiter einst in Fabriken und über die Kneipen im gemeinsamen Wohnviertel vernetzen konnten, fehlen diese sozialen Orte der Kommunikation bei den prekarisierten und individualisierten Ich-AGlern.

Der Blick ins europäische Ausland zeigt jedoch: Es geht auch anders. In Italien und Frankreich ist Prekarisierung mehr als nur ein abstrakter Begriff. „Ausgehend von den ersten Mayday-Protesten in Mailand 2002 gibt es eine gewisse Regelmäßigkeit und Dichte der Proteste“, sagt Rucht. Langsam könne man dabei von einer sozialen Bewegung sprechen. Für die Bundesrepublik kann der Protestforscher solche Tendenzen aber nicht erkennen.

Was nicht ist, kann jedoch noch werden: Die breite Resonanz, die die AktivistInnen mit ihren kreativen Protestformen bereits erzielt haben, könnte ihr Engagement durchaus beflügeln. Auf diesem Wege sind schon andere Bewegungen entstanden.

* Name geändert

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