: Es ist eine kritische Masse von Toten erreicht
Wir haben uns für immer verändert. Eine Zivilgesellschaft ist geboren! Und die Regierung muss weg
VON IRENA KARPA
Eine schwere Zeit zum Schreiben, es fällt mir in dieser Situation nicht leicht. Die Zeit zerreißt auch mich: Der Flughafen Schuljany, wo meine Freunde mit ihren Autos die Zufahrt blockieren, um die Regierungspolitiker an der Flucht zu hindern; versteckte Lazarette, in denen die Verletzten des Maidan untergebracht werden, die weiter in spezielle Kliniken ins Ausland müssten. Diese Lazarette werden rund um die Uhr bewacht, denn die Miliz verschleppt verletzte Demonstranten aus Krankenhäusern und Notaufnahmen.
Da ich fast ständig am Maidan bin und mich dort oft mit Kleinigkeiten beschäftige, kann ich kaum ein objektives Bild liefern, meine Einschätzung beruht im Wesentlichen auf meinen eigenen Erfahrungen. Und mir scheint manchmal, dass diese Ereignisse im Internet oder Fernsehen zu beobachten einen Schrecken ganz anderer Art darstellt, als an Ort und Stelle zu sein.
In den letzten Tagen wurde eine kritische Masse von Toten erreicht, die eine unabwendbare Veränderung der Gesellschaft mit sich bringt. Die Menschen kommen nicht nur zum Maidan, sondern gehen auch in den Plattenbausiedlungen auf die Straße, stellen eine Selbstverteidigung zusammen und postieren Wachen, um ihre Stadtviertel, Krankenhäuser, Schulen und Kirchen gegen Schlägerbanden zu verteidigen, die das Regime aus anderen Regionen herbeischafft.
Nun war der letzte Abend ruhig, überraschend ruhig. Es wurden nur einige Zufahrten zu Kasernen blockiert und einige angetrunkene Schläger in den Plattenbauvierteln aufgegriffen. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen. Da galt: Schrei dir ruhig die Seele aus dem Leib; keiner wäre nachts aus seiner warmen Stube gekrochen, um dir zu helfen. Doch nun ist alles anders. Also heißt uns willkommen! Eine Zivilgesellschaft wird geboren! Die Psychologie einer ganzen Gesellschaft ändert sich.
Es gibt zahlreiche Beispiele, dass sich normale Bürger, darunter auch viele Frauen, den bewaffneten Einheiten des Unrechtsstaates entgegenstellen. Doch nun feuern Scharfschützen gezielt auf Sanitäter, Journalisten, Frauen, Jugendliche und ältere Menschen, einfach auf alle, die auf dem Maidan für die eigene Würde und die Menschenrechte protestieren.
Die Sondereinheiten haben den Mann meiner Gesangslehrerin getötet, auch den Mann einer befreundeten Journalistin und den Partner einer befreundeten Übersetzerin; ich könnte die Aufzählung leider fortsetzen. Seit ich die Leichen gesehen habe, die mit Decken und ukrainischen Fahnen im Garten des Michailowski-Klosters aufgebahrt sind, weiß ich, dass ich mich völlig verändert habe, dass wir uns alle von Grund auf verändert haben.
Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Wurzeln des Übels? Und warum gibt es nur diesen einen Weg: mit dem Rücktritt von Janukowitsch, mit einer umfassenden Aufarbeitung und mit Gerichtsverfahren gegen all jene, denen Blut an den Händen klebt, und mit einer grundlegenden Veränderung des politischen Systems?
Die Ukraine ist im Prinzip ein monoethnischer Staat. Der Konflikt lässt sich eher geografisch und kulturell als gesellschaftlich begreifen. Es geht um zivilisatorische Grundwerte. Es gibt Menschen, die auf die europäische Zivilisation setzen, und anderseits Menschen, die sich der „russländischen Welt“ anschließen wollen. Unglücklicherweise leben sie in einem Land zusammen. Wenn das Land eine Regierung hätte, die diese Bezeichnung verdient, dann hätte sie einen Dialog mit der Bevölkerung eingeleitet, und alles wäre anders gekommen.
Bis vor einem halben Jahr etwa funktionierte bei uns der Instinkt, wegzurennen, sobald man einen Milizionär sah, um der Gefahr zu entkommen. Doch nun haben die Menschen auf dem Maidan keine Angst mehr. Und es mag pathetisch klingen, wenn wir sagen: „Wir verteidigen hier unsere elementarsten Menschenrechte und unsere menschliche Würde.“
Der Maidan besteht nicht aus radikalen Jugendlichen, aus Chaoten, die um der Randale willen da sind. Der Maidan ist das Überbleibsel einer Mittelklasse – Kleinunternehmer, Künstler, Studierende, die zur Verteidigung Steine aus dem Straßenpflaster brechen.
Übersetzt von Alexander Kratochvil. Auf taz.de finden Sie eine ungekürzte Version.
■ Irena Karpa, geboren 1980 in den Karpaten, ist Musikerin bei der Band Quarpa und eine der populärsten Autorinnen der Ukraine
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