: Braucht Kultur Industrie?Ja
PERSPEKTIVEN Musik und Literatur werden meist in professionellen Strukturen produziert. Tötet diese Industrialisierung die Kreativität?
Die sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante LeserInnenantwort aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.taz.de/sonntazstreit
Klaus Wowereit, 56, SPD-Politiker, ist seit 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin
Zum kulturellen Leben gehört die Kulturindustrie. Die Befriedigung kultureller Bedürfnisse in der modernen Massengesellschaft ist legitim. Es ist gut, wenn sich so viele Menschen wie zuletzt bei der Frida-Kahlo-Schau in Berlin für Malerei begeistern. Wenn diese Menschen ein Kahlo-Buch haben wollen, dann ist das eine Aufgabe für kompetente und leistungsfähige Verlage. Kultur ist eben auch ein Wirtschaftsfaktor. Das ist ebenfalls legitim. Der eigentliche schöpferische Prozess dagegen braucht überschaubare Bedingungen. Menschen, die Neues entdecken, ungewöhnliche Wege gehen, die Individualisten sind, erfordern passende Strukturen für ihre Kreativität. Es wird dabei auch immer Austausch und gegenseitige Befruchtung geben. Das ist die Situation, die Berlin gerade für Kulturleute so attraktiv macht, denn in Berlin ist beides vorhanden. Die großen Kulturtanker brauchen die immer neuen Anstöße, die auch mit neuen Medien und Techniken und damit neuen Formen verbunden sind. So war das schon beim Aufkommen der Fotografie und später des Films. Die Kleinen, Einzelnen werden mit dem Erfolg Arrivierte, steigen auf, und auch die Industrie verändert sich zum Teil massiv. Wichtig ist mir: Kulturpolitisch müssen wir die Balance halten.
Wolfgang Farkas, 42, Mitbegründer und Leiter des Independet-Verlags Blumenbar
Nicht nur die Sex Pistols, schon Frank Zappa und die Mothers of Invention signalisierten 1968 mit dem Album „We’re only in it for the money“: Es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen Underground und Mainstream. Die Grenzen sind fließend. Das gilt heute mehr denn je. Die größte Sparte in den Musikabteilungen der Multimediamärkte heißt „Independent“. In der Verlagsbranche ist das anders und komplizierter; Massenware (zu der auch mal Charlotte Roche zählen darf) dominiert die Verkaufsflächen. Doch auch für einen unabhängigen Verlag wie Blumenbar, dessen Programm sich nicht zuletzt durch eine radikale Art von Gegenwartsliteratur auszeichnet, zählen neben Amazon Kaufhäuser wie Hugendubel oder Dussmann zu den wichtigsten Kunden. Bücher also, wie die Gesellschaftspornos von Matias Faldbakken, die genau solche Widersprüche zum Thema haben, erreichen über diese Kanäle ihre Leser. Trotzdem gilt, dass das Herz eines Indie-Verlags selbstverständlich für Indie-Buchhandlungen schlägt. Wie auch eine vielfältige Verlags- und Buchhandelsszene in Zukunft mehr denn je für öffentliche Diskurse und, pathetisch gesagt, persönliche Herzensbildung nötig sein wird. Von staatlicher Seite wäre hier ein bisschen mehr DDR und ein bisschen weniger Abwrack geboten. Da das aber kaum zu erwarten ist, bleibt die einzige Chance: Raus aus der Nische, rein in die Industrie!
Gottfried Honnefelder, 64, ist Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Lautet die Frage „Literatur – wozu?“, dann braucht es keine Industrie. Dann würde das „Handwerk“ des Schreibens genügen. Fragen wir aber „Literatur – für wen?“, geht es nicht ohne Industrie. Erst ein rationalisierendes System von Herstellung und Verbreitung macht Literatur, wie überhaupt alles Kulturgut, weithin sichtbar und überhaupt erst greifbar. Bücher und Autoren konkurrieren nicht nur untereinander, Literatur steht heute im Wettbewerb mit allen anderen Medien, dem gesamten öffentlichen Unterhaltungswesen, selbst mit dem Sport. All diese Bereiche fordern unsere Zuwendung. Um wahrgenommen zu werden, braucht Literatur daher einen quasi industriellen Geräuschpegel oberhalb der Wahrnehmungsschwelle. Nur dann wird sie wettbewerbsfähig im Buhlen um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Hinzu kommt auch: Wir leben im Zeitalter des unbegrenzten Speicherplatzes und damit auch des unüberschaubaren Angebots. Erst der sogenannte Literaturbetrieb stellt verlorene Orientierung wieder her, indem er Märkte schafft und eine Auswahl trifft. Das entlastet nicht zuletzt auch die Autoren und gibt ihnen erst Raum und Zeit für das Eigentliche: für das Schreiben.
Nein
Robert Drakogiannakis, 44, Sänger von Angelika Express, ließ ein Album von Fans finanzieren
Der Moloch Musikindustrie hat sich durch Trägheit selbst in die Knie gezwungen, was den alten Punk in mir in Entzücken versetzt. Die Aufmerksamkeitsmaschinen der Unterhaltungsindustrie laufen immer öfter ins Leere, wunderbar. Teile des Publikums emanzipieren sich von den Filtersystemen des Mainstreams und tasten ständig immer vielfältigere Nischen auf geilen Input ab. Die Musikkonserve als Massenprodukt ist entwertet, Karten werden neu gemischt, unabhängig arbeitende Künstler haben plötzlich fette Asse im Ärmel. Wer subkulturell agieren will, kann sein Publikum nun unmittelbarer erreichen, ohne den inhaltlichen und ökonomischen Schwund, den die Bürokratie alter Label-Hierarchien gerne verursacht. Macht bloß viel Arbeit: Weil es kinderleicht geworden ist, aus den Schlafzimmern heraus Selbstproduziertes in alle Welt zu funken, wird das Erregen von Aufmerksamkeit immer kritischer. Wer Musik als Profession begreift, muss sich also erst mal aus einer unfassbar anschwellenden Sintflut von Mittelmäßigkeit hervorheben, um seine Relevanz unter Beweis stellen zu können. Jenen, die den Spagat zwischen erstklassiger Kreation und virtuoser Selbstvermarktung am besten hinkriegen, stehen die Tore offen. Bewohner des Elfenbeinturms sehen jedoch harten Zeiten entgegen, da bald niemand mehr da ist, um ihnen zu helfen. Allerdings waren die Zeiten schon immer verdammt hart, was das angeht.
Eva Kiltz, 35, ist Geschäftsführerin des Verbands unabhängiger Musikunternehmen
Musik braucht keine Industrie, sondern langfristige Partner und internationale Netze. Hinter kreativer Musik steht immer eine Musiker-Persönlichkeit, folglich ist jeder Musiker im übertragenen Sinne ein Prototyp. Industrielle Serienproduktion unter standardisierten und wirtschaftlich effizienten Bedingungen kann daher dauerhaft weder zu interessanter Musik noch zum Erfolg führen, weil sie Individualität nivelliert oder komplett ausschließt. Musiker suchen folglich nicht nach industrieller Verwertung, sondern nach Partnern, die sie dabei unterstützen, ein möglichst globales Netzwerk zwischen Künstlern, Labels, Clubs, Bookern, Verlegern, Medien und Agenten zu spannen. Dieses Netz ermöglicht es dem individuellen Musiker, ein breiteres Publikum für die eigene Musik zu erreichen. Industrielle Vermarktungsmethoden würden dieses feine Netz schnell überlasten und zerreißen. Tatsächlich gibt es aber eine Industrie, die den Künstlern und Unternehmen der Musikbranche das Leben schwer macht: die Medienindustrie, aber auch Plattformen wie Youtube oder Telekommunikationsanbieter wie Nokia. Einerseits sind Künstler und Kulturvermittler auf deren Vertriebs- und Kommunikationsfunktion angewiesen. Andererseits funktioniert aber Musik – und alle Kultur – nicht nach der industriellen Logik, die diesen Branchen zugrunde liegt, wodurch sich ein Systemkonflikt zwischen Kultur(schaffenden) und Industrie ergibt.
Timm S., 29, ist Babysitter von Beruf und hat seinen Beitrag bei taz.de online gestellt
Kultur braucht Infrastruktur. Diese Funktion übernimmt in weiten Teilen das Monstrum „Kulturindustrie“. „Schöne, reine und erhabene Kultur“ gibt es da zu sehen, wo die Industrie sich als infrastruktureller Rahmengeber zurückhält, worunter ich verstehe, dass sie die Inhalte in Frieden lässt. Vermurksten Konsenskram, bei dem ein Blick auf den kulturtreibenden Menschen stark verschleiert wird, gibt es dort, wo die Industrie ihre eigenen Inhalte generiert oder es versucht. Ein Problem wird die Kulturindustrie, wenn die Infrastruktur für Kulturschaffende nicht mehr zugänglich ist, wie etwa durch den Quotendruck im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Kultur schafft sich ihre Infrastruktur selbst. Diese wird über kurz oder lang zur Industrie und greift ihre Substanz an. Dann geht sie kaputt und die Kultur fängt wieder an, sich eine neue Infrastruktur zu bauen. Das „Kaputtgehen“ könnte für meinen Geschmack etwas schneller gehen.
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