: Das Ende der Geschichte als Option
TEST Das Strategiespiel „Civilization“ ist ein moderner Klassiker. Man kann siegen. Oder neu starten
ALEXANDRE KOJÈVE, PHILOSOPH
VON MAIK SÖHLER
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr des Ersten Weltkriegs ein Sonderangebot zur Weltherrschaft anbieten – muss das sein? Unbedingt. Anfang Februar stand das „Humble Sid Meier Bundle“ zum Download bereit. Für ein paar Dollar konnten ältere Spiele, Updates und Ergänzungen des Entwicklers Sid Meier zusammen erworben werden. Zum „Bundle“ gehörten auch die Versionen III, IV und V des PC-Klassikers „Civilization“, eines 1991 gestarteten Strategie- und Aufbauspiels, das dank gut programmierter Nachfolger zu den erfolgreichsten Spielereihen der neunziger und nuller Jahre gehört. Zwar ist „Civilization“ kein Kriegsspiel, doch militärische Strategien gehören dazu wie die Gasmasken zum Ersten Weltkrieg: Es geht auch ohne, der Verzicht kann aber drastische Folgen haben.
In seinem erstmals 1939 veröffentlichten Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ führt der Soziologe Norbert Elias aus, wie das deutsche Bürgertum sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg im Namen der eigenen Kultur gegen die Zivilisation wandte. Der Begriff Zivilisation galt als verweichlicht und dekadent, sie sei etwas für Krämer; nur am deutschen (Kultur-)Wesen könne die Welt genesen. Elias verfolgt die „Soziogenese“ des Gegensatzpaars Kultur und Zivilisation bis ins Mittelalter. Wo von Frankreich aus der Begriff der Zivilisation später seinen Siegeszug um die Welt antrat, da dümpelte die deutsche Kultur in Klein- und Vasallenstaaten vor sich hin.
In den komplexen, sich stets wandelnden Welten von „Civilization“ besteht dieser Gegensatz fort, wenn auch verworren und mehrfach gebrochen. Wo die Franzosen zu Spielbeginn mit einer großen Kathedrale und damit reichlich kultureller Ausstrahlung starten, können die Deutschen nur gut kämpfen und effizient arbeiten. Beide streben dennoch dasselbe Ziel an. Egal in welcher Variante, immer will eine Welt über tausende Jahre zum Wohl der Pixel-Menschheit entwickelt und schließlich zum Wohl der eigenen Zivilisation beherrscht werden.
Man mag zu Recht einwenden, dass das Wohl der Menschheit und das Wohl der eigenen Sippe, Nation oder Zivilisation sich meist grundlegend widersprechen. „Kein Tier würde eine Fahne erobern“, schreibt der Philosoph und Hegelianer Alexandre Kojève, und bringt damit den Abscheu auf den Punkt, der einen beim Spielen von „Civilization“ manchmal befällt und der die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg präsent hält: den Zwang zur Unterwerfung des Gegners statt Kooperation in Frieden.
Es werden in „Civilization“ zwar keine Fahnen erobert, aber Städte. Im Spiel ist Geschichte eine Abfolge von kulturellen und technischen Errungenschaften, die bestimmte Wirkungen haben. Man tritt ein in den Wettbewerb der Nationen und kann ihn gewinnen oder verlieren, je nachdem, wie gut die eigenen Wissenschaftler, Soldaten, Bauern, Handwerker und Händler arbeiten. Gut meint hier effizient, Krieg gehört zum Tagesgeschäft, Territorien wollen erobert oder verteidigt werden, das Volk ist zufrieden, wenn es nur genügend Angebote zur Zerstreuung gibt.
„Kein Tier würde eine Fahne erobern“ – Kojève liegt richtig und falsch zugleich. Richtig, denn wo sich das Tier selbst erhält und tötet, um zu überleben, tötet der Mensch auch mit der Begierde, sich über andere zu erheben. Und weil das nicht mehr geht, wenn die anderen tot sind, ist die Gewalt- oder Kriegsdrohung manchmal wichtiger als tatsächliche Gewalt und realer Krieg. So entstehen Herr- und Knechtschaft. Hegels Ende der Geschichte fällt in „Civilization“ in eins mit der eigenen Dominanz, und wenn es mal anders ist, wird das Spiel halt abgebrochen.
„Kein Tier würde eine Fahne erobern“ – Kojève liegt falsch, denn Zivilisation ist prozesshaft. Das lehren uns „Civilization“ selbst und eben Elias in „Über den Prozess der Zivilisation“. Sein Blick auf die Zivilisation ist einer, der sich auf das Werdende und Gewordene, also das von Menschen Gemachte richtet. „Civilization“-Spieler kennen das. Sie selbst entscheiden, ob sie ökonomisch, wissenschaftlich, kulturell oder militärisch siegen wollen. Ab einem bestimmten Spielstand und je nach Gegner kann dies schnell erreicht oder fast unendlich verzögert werden. Das Ende der Geschichte ist eine Option, mehr nicht.
Wichtiger sind für Elias die Begriffe Entwicklung, Prozess, Interdependenz, Widerspruch und ihre Verbindung. Den Prozess der Zivilisation wird nicht verstehen, meint Elias, wer sich nicht auch mit den Selbst- und Fremdbildern von Menschen und ihren Wechselwirkungen befasse. In „Civilization“ sind die Mongolen gefürchtete Gegner, da sie, von der künstlichen Intelligenz gesteuert, nur auf Raub und Krieg aus sind. Spielt man sie selbst, ist zumindest auf mittlerer Spielstufe ein Kultursieg ohne allzu große Gefechte möglich. Dschingis Khan kann der Welt ewigen Frieden bringen.
Die Neuausgabe des Buches im Jahr 1969 widmete Elias seinen Eltern: „Hermann Elias, gest. Breslau, 1940. Sophie Elias, gest. Auschwitz 1941 (?)“. Ort und vage Zeitangabe des Todes seiner Mutter verweisen darauf, was alles zum „Prozess der Zivilisation“ und erst recht zu ihrem Widerpart gehört – der deutschen „Kultur“. „Civilization“ beinhaltet alle Kriegsarten – zur See, in der Luft, am Boden, selbst Atomwaffen schlagen ein. Vernichtungslager aber gibt es nicht.
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