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Den Strick für die Greise

War die Grass-Debattenschlacht immer noch nicht das letzte Hurra der öffentlichen Achtzigjährigen? Sollten die Alten nicht besser ein Einsehen haben und den Mund für immer schließen? Klaus Harpprecht (79) übt schon einmal

Kein Wort mehr über GG. Genug ist genug. Ein wahrer Tsunami der Enthüllungs-, der Denunziations-, der Betroffenheits- , der Schmerzlust drohte uns zu ersäufen. Mit letzter Kraft retteten wir uns ans Ufer, da liegen wir nun, und der Atem geht schwer. Aus. Vorbei. GG hat sich selber bewältigt. Mag er, auf der zurückbrandenden Woge reitend, sein Buch der Erinnerung und des Gedächtnisschwundes eine halbe, eine ganze Million Mal verkaufen – wir brauchen es nicht zu lesen. Der Hauptherausgeber Schirrmacher hat das für uns erledigt.

In den Papiermüll mit den tausendunddrei Kommentaren. Wir sind durch. Oder? Der müd gewordene Blick bleibt im Vorübergehn der Worte schließlich doch an ein paar Stachelsätzen hängen, die sich in die Seele bohren. Schon wieder betroffen. Schreibt irgendein leicht überalterter Nachwuchsautor (Klein heißt er, Georg) in der „Literarischen Welt“: „Wir bewohnen die Republik der verborgenen Greise“. Weiter: „Unsere Männer an die achtzig, die einstigen Flakhelfer, Wehrwölfe, das blutjunge letzte Aufgebot der Wehrmacht und Waffen-SS, sie sind in den Heimen oder im engeren Kreis der Familien mehr oder minder dem Blick der Allgemeinheit entzogen. Man sucht in der Regel weder ihre Nähe noch das gründliche Gespräch, schon gar nicht ihren Rat …“

Ja, ich war Flakhelfer

Das geht auf mich. Werwolf war ich nicht (den schreibt man ohne „h“, auch nach dem neuen Duden): Werwölfe kamen fast nur als Propaganda-Gespenster der Goebbels-Alchemie und als alliierte Gerüchte vor. Waffen-SS war ich auch nicht. Aber Flakhelfer, sechs Wochen lang Arbeitsmann, vom Herbst 44 an letztes Aufgebot der Wehrmacht. Artillerie. Bespannt. Pferde waren wieder willkommen in Führers Diensten, weil alle Motoren im russischen Winter verreckt waren, und Sprit gab es sowieso nicht. Ahnt einer von den Fanten, wie es zugeht, wenn eine 10,5-Haubitze mit sechs hysterischen Zossen auf nassem Lehm in Stellung gebracht werden soll? Chaos total. Der Hauptbahnhof nach einem Bombenanschlag ist ein Sanatorium im Vergleich.

Wichtiger: Da nahm einer GGs lukrative Offenbarungskatastrophe zum Anlass, den Greis mit dem Bade auszuschütten. Und er ist nicht der Einzige, der eine ganze Generation zum Teufel wünscht: weg mit den sabbernden Vogelscheuchen. So einfach ist das freilich nicht. Mit den Fünfzigjährigen haben sie leichteres Spiel. Verbraucht, längst nicht mehr knackig genug für die raren Jobs: raus mit einem Tritt in den Hintern und Hartz IV.

Bei den Siebzig-, den Achtzigjährigen aber ist Vorsicht geboten. Sie sind so unsichtbar nicht. Zum Beispiel hocken so manche Rüstgreise unserer Republik nicht in Heimen, nicht hinterm Ofen und nicht in den Familien-Abstellkammern, sondern in Aufsichtsräten. Die Fante (überaltert oder nicht) suchen ihre Nähe mit devotem Eifer, und sie wissen, warum. Greisenrat ist gefragt und wird mit schwerem Gold aufgewogen. Selbst die Nähe der Nicht-Prominenten – es sind Hunderttausende, wenn nicht Millionen – ist begehrt. Denn nach Auskunft führender Finanzinstitute hat die Greisengesellschaft ein Erbvermögen von mindestens eineinhalb Billionen Euro zusammengescharrt, das bis zum Ende des Jahrzehntes fällig wird, Beute der lachenden Söhne, Töchter, Enkel, Nichten und Neffen: mehr Geld und Gut, als jemals in der Geschichte von einer Generation hinterlassen wurde. Damit zeigen sich die natürlichen Grenzen des Generationenkonfliktes an, falls es einen gibt.

Unser Gewährsmann, Georg Klein, der mit dreiundfünfzig auch kein Hüpfer mehr ist, fasste umso schärfer die „öffentlichen Greise“ ins Auge, zu denen GG gehört, aber neben, mit ihm und hinter ihm die Gerontengarde der deutschen Literatur: Walser, versteht sich, der Portraitist und Repräsentant der unsterblichen deutschen Kleinbürgerseele, Siegfried Lenz, der wahrhaftigste und solideste Handwerker unter den Kriegs- und Nachkriegserzählern, Peter Rühmkorf, der Dichter der „skeptischen Generation“, Dieter Wellershoff, Günter Herburger, unser Generalchronist Walter Kempowski, Christa Wolf (damit wenigstens eine Stimme von drüben im Chor der Greise mitsingt), Rolf Hochhuth, der noch immer dem Zeitgeist hinterherjapst, Joachim Kaiser, der letzte Universalkritiker, Fritz J. Raddatz, der Alleskönner (Jahrgang 31), der nach eigenem Bekunden niemals eine Pimpfenuniform trug; andere seines zarten Alters lauerten in der Berliner Götterdämmerung den sowjetischen Tanks mit Panzerfäusten auf, wofür ihnen der tattrig-fiebernde Führer bei seinem letzten, allerletzten Ausflug ans Tageslicht die Wange tätscheln mochte.

Öffentliche Greise, allesamt. Der Trompeter der „Literarischen Welt“ – und er nicht allein, weiß Gott nicht – drängt auf ihren Abgang. Sie werfen zu schwere Schatten: Kein Wunder, dass in ihrem Umkreis kein Jungbaum und kein Strauch zu gedeihen vermag. Sie üben Macht aus – soweit ein Literaturmensch mächtig ist (aber man darf seinen Einfluss nicht ungestraft unterschätzen). GG zum Beispiel hat die Döblin-Stiftung zur Förderung des begabten Nachwuchses etabliert, mit eigenem Geld. Vermutlich hält er sich bei Auswahl der Talente, denen sein Stipendien-Segen zuteil wird, diskret und edel zurück. Schmählich verkennt seine stille Größe, wer unterstellt, der Alte werde schon Mittel finden, die Verfasser der rotzigsten Hohn-, Spott- und Schmähschriften aus dem Kreis der Glücklichen zu entfernen. Nicht jeder ist zu solcher Entsagung fähig. Wäre ich GG und mein Herz voller Gram, ich würde schon dafür sorgen, dass zum Beispiel der Autor des Pamphletes in der „Literarischen Welt“ niemals und nimmer in den Genuss solcher Förderung käme (für die er in Wahrheit zu alt ist). Wäre er mein Neffe – ihm würde keinesfalls Oheims klitzklein Häusgen zuteil.

„Wie könnten wir unseren Greisen“, seufzte hingegen unser frustrierter Nachwuchssprecher stellvertretend für seine mittelalterliche Generation, wie könnten wir den Greisen, „den verborgenen wie den öffentlichen, ein bisschen dabei helfen, in Würde nach und nach weniger zu werden?“

Wenn weniger mehr wäre? Nicht auszudenken … Fürs Schwinden braucht es in der Regel keine Hilfe. Das passiert von selbst. Man muss sich in Geduld fassen. Wer dem Schwund der Erbgreise nachhelfen will, sollte äußerste Vorsicht walten lassen: Eine aktive Beschleunigung des Schwindens könnte leicht den Verdacht krimineller Machenschaften auf sich ziehen. Zyankali in den kleinsten Dosen, aber auch regelmäßige Beigaben von Barbituraten bleiben selten unentdeckt. Doch sind wir in der Tat aufgefordert, über würdevolle und leise Formen der Euthanasie für die überalterten Literatur- und Kunstgreise nachzudenken: Sterbehilfe auf Raten. Exitus lentus.

Zermürben, Druck verweigern

Wie wäre ein geförderter Abgang ohne Gifte zu denken? Zermürbung durch Druckverweigerung, für die sympathisierende Redakteure wohl zu gewinnen wären? Keine Rezensionen mehr, nur lächelndes Beschweigen? Warnung an alle Parteien, sich von Literaten, so lebhaft auch ihr Wille zum Engagement sei, mit dem Hinweis auf kontraproduktive Effekte fernzuhalten? Verweigerung jeder Diskussion mit den Greisen im Fernsehen oder Radio, erst recht in Wickerts literarischen Plauderstunden? Mahnung des Publikums (unter der Hand), Lesungen auch in ländlich bescheidenen Buchhandlungen tunlichst zu meiden? Seelische Erstickung durch Isolation? Wenn gar nichts anderes hilft: Boykott der Greisen-Verlage durch sämtliche Jungpoeten und Nachwuchsautoren! Keinen einzigen Erstling mehr für Rowohlt und Fischer und Hanser und Piper und Beck und Hoffmann und Campe und Kiepenheuer und Witsch, schon gar nicht für Random House!

Aber was, wenn die Finanzchefs jener Häuser und erst recht die Controller von Holtzbrinck und Bertelsmann jubelnd von einem Bein aufs andere hüpften, weil ihnen auf diese Weise eine sichere Steigerung der Rendite zuteilwürde? Weil, so pervers es ist, die Monsterauflagen der Alten bisher die Unkosten für die Anfänger decken mussten, was sich stets als eine arge Belastung der Bilanzen erwies.

Dann, ja dann kann man den Greisen nur noch den Strick ins Haus schicken. Freilich ist nicht garantiert, dass sie Gebrauch davon machen. Wenn nein, müssen sich die unmutig scharrenden Genies der vorwärtsdrängenden Generationen mit der Hoffnung begnügen, dass die Erderwärmung jäh von einer neuen Eiszeit abgelöst wird, die es erlaubt, die Alten nach Eskimo-, Verzeihung!, nach Inuitart aus dem Iglu in die kalte Nacht zu schicken, mit einem Hering als Wegzehrung: Der Erfrierungstod ist gnädig. Oder, falls ein tropischer Urwald auf deutscher Scholle wuchern sollte, müsste man die allzu Langlebigen unter Riesenfarnen zurücklassen, wo sie alsbald von Schlinggewächsen erdrosselt, wenn nicht vom Krokodil gefressen würden.

Weniger sein, weniger werden

So oder so: Freiraum für aufstrebende Talente! Die Greise sollen ein Einsehen haben und pflichtgetreu weniger werden, der Autor dieser Zeilen nicht ausgenommen. Niemandem darf der Weg nach vorn und zu Erfolgen à la GG verwehrt sein, obschon es ihm oder ihr nicht vergönnt war, sich für ein Leben als Dichter bei der Flak oder als Werwolf oder als letztes Aufgebot von Wehrmacht und Waffen-SS, vielleicht auch als Nachrichtenhelferin zu stählen. Keiner und keine der Jungen und Halbalten kann etwas dafür, dass er, dass sie sich ohne Krieg und Drittes Reich und Lager, vielleicht sogar ohne Stasi im üppigsten Frieden, am Ende sogar in Erwartung einer hübschen Erbschaft zum Dichter und Schriftsteller heranbilden durften, dass sie mit anderen Worten kein Schicksal hatten. Überdies sollten wir Greise bereit sein, von der Jugend zu lernen: zum Beispiel, wie man weniger ist und noch weniger wird. Ich übe. Was GG betrifft: Schnecke im Krebsgang. Genial.

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