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Nach der Selbstberauschung

Einen Monat lang bringt das 20. Hamburger Kabarettfestival alte Haudegen und Newcomer des Genres zusammen und beschäftigt sich unter dem Motto „Nachspielzeit“ mit dem, was vom Weltmeister-der-Herzen-Gefühl geblieben ist

Sa, 2. 9.–Mo, 3. 10., jeweils 20 Uhr, im Polittbüro, Steindamm 45 und im St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29/30; Programm unter www.polittbuero.de oder www.st-pauli-theater.de

Im Januar 1987 – das noch geteilte Deutschland hat bereits fünf Jahre Kohl hinter sich, noch ahnt niemand, dass weitere 11 Jahre folgen sollten – veranstaltet Ulrich Waller in der Kampnagelfabrik das erste hiesige Kabarettfestival. Seitdem treffen sich die Großen und Kleinen des Fachs alljährlich in der Hansestadt zum Gipfeltreffen der Kleinkunst. Den 20. Geburtstag feiert das Festival folglich in diesem Spätsommer und präsentiert mit 56 Künstlern in 36 Programmen ein pralles Geburtstagsprogramm im St. Pauli Theater und im Polittbüro.

Unter dem Motto „Nachspielzeit“ nimmt man sich dieses Jahr vor allem der Frage an, was vom Deutschland-Gefühl der ach so prima gelaufenen Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Land übrig geblieben ist. Die Selbstberauschung geht zu Ende, Klinsi ist gegangen und nur noch vereinzelt zieren die wochenlang obligatorischen Nationalflaggen den familiären Kombi. Klarer lässt sich nun fassen, wie viel das wiedergefundene nationale Mannschaftsgefühl wert war.

Los geht die kabarettistische Analyse heute und morgen Abend mit der großen Gala „Kohl, Schröder, Merkel & sonst?“ im St. Pauli Theater. Mit dabei sind Schachbundesligist Matthias Deutschmann, Heinrich Pachl, Klaviercharmeur Hagen Rether, Arnulf Rating, der „König der Gesellschaftskabarettisten“ Horst Schroth und Missfits-Hälfte Gerburg Jahnke. Gemeinsam werfen sie einen satirischen Rückblick auf 20 Jahre Festivalgeschichte.

Zum Festivalstart im Polittbüro – der gleichzeitig dessen 3. Geburtstag ist – begeben sich am Dienstag „Stoppok“-Ghostwriter und Rio-Reiser-Wiedergeburt Danny Dziuk und der „Hanibal Lector der Literaturkritik“ Wolfgang Nitschke mit ihrem „Ein Kessel Durchgeknalltes“ auf die Bühne.

Die folgenden vier Wochen gibt es dann täglich Stars und Newcomer der Szene zu sehen. Gleich sechsmal präsentiert sich Horst Schroth beispielsweise mit seinem Programm „Nur die Größe zählt“. Wie ein Freund, mit dem man über alles reden kann, erzählt seine Figur Nikolaus Niehoff, Immobilienmakler mit WG-Erfahrung im besten Pflegestufe-3-Alter, unter anderem vom US-Partner, der sich nicht mehr am HafenCity-Projekt beteiligen will, von seinem Neffen, der Moslem werden möchte und und seinem besten Freund, der just die Frau heiraten will, mit der er gerade eine Affäre begonnen hat. All das läuft auf die melancholische Pointe hinaus, dass es letztlich die Größe ist, auf die es ankommt. Zu einem einmaligen Gastspiel hat sich Schroths Weggefährte Achim Konejung – der seit einigen Jahren als in der Voreifel verschollen gilt – überreden lassen. Am Mittwoch nächster Woche wird er erzählen, warum er nach 25 Jahren im Dienst des Humors ein neues Leben begonnen hat, und ein „Best of“ seines Schaffens präsentieren, das ihm den Deutschen Kleinkunstpreis und den Kabarettpreis eingebracht hat.

In Georg Schramms kompromisslosem Programm „Thomas Bernhard hätte geschossen“ zeigen unter anderem Lothar Dombrowski, der wild gewordene Rentner mit dem schwarzen Kampfhandschuh, und Oberstleutnant Sanftleben, wie nah Spaß und Ernst liegen, wenn man als Humorist gekonnt das umschifft, was seit einigen Jahren auf den Namen Comedy hört. Wer hingegen wissen will, wer als neuer Fixstern am Kabaretthimmel gilt, sollte Klaviervirtuose Hagen Rether nicht verpassen, dem die Prix Pantheon-Jury die Arbeitsweise eines Pathologen bescheinigt. ROBERT MATTHIES

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