: Das Unverfügbare
SPRACHKRAFT Der Schriftsteller Peter Wawerzinek schreibt über ausgebliebene Mutterliebe. Ein interessanter Fall: Glauben wir noch an die Vorstellung, dass durch Literatur ein individuelles Schicksal transzendiert werden kann?
VON DIRK KNIPPHALS
Mutterkatastrophen sind schlimm. Psychoanalytische Ansätze können einem ganz gut plausibilisieren, warum. Weil die Erfahrungen von Verlassenheit, Verlorenheit und Ausgeliefertsein hier oft bis in vorsprachliche und vorrationale Zeiten zurückreichen, sind sie zeitlebens schwer zu bearbeiten.
Sehr schön hat das einmal der Science-Fiction-Kinoklassiker „Bladerunner“ illustriert. Darin wird ein Replikant – ein künstlich geschaffener Mensch – einmal nach seiner Mutter (die er natürlich gar nicht haben kann) gefragt. Damit soll eine emotionale Reaktion erzeugt werden. Der Replikant sagt dann: „Meine Mutter? Ich erzähl Ihnen was über meine Mutter!“ Dann zückt er eine Pistole und knallt sein Gegenüber einfach ab.
Der Schriftsteller Peter Wawerzinek (56 Jahre alt und vor 54 Jahren von seiner Mutter verlassen) unternimmt in seinem Roman „Rabenliebe“ in manchem genau das Gegenteil wie der stoische Replikant – er wütet, er dreht sich sprachlich im Kreis, er jagt die Erinnerungsmaschine hoch und er kommt vor lauter aufgeregter Sprachproduktion schier nicht zur Ruhe; und doch, hat man manchmal den Eindruck, will auch Wawerzinek sein Gegenüber, den Leser, im Grunde einfach umnieten. Das hört sich zum Beispiel so an: „Ich verliere mich, ich zerfalle, zersammle mich zum Sehnsuchtsschweif, der mein Antrieb ist, ziehe im kalten All der Gedanken meine Bahn auf eine imaginäre Mutter zu, von der es heißt, sie wäre der einzige Planet im Einsamkeitskosmos, auf dem für mich das Leben existiert.“
Mutterkatastrophen mögen hart sein. Peter Wawerzinek, der in Heimen und bei „Adoptionseltern“ (das Wort Adoptiveltern mag er nicht) aufwuchs, will sich erzählerisch als härter erweisen. Entstanden ist so ein 400 Seiten langer und sprachlich hochgetunter Versuch über die Mutterlosigkeit. Immer wieder legt der Erzähler darin Spuren, die auf einen Lösungsprozess hinweisen: „Alles dies versuche ich zu beschreiben und in seinem Elend noch einmal zu durchleben, um mich von inneren Qualen zu trennen.“ Es geht aber auch um die Aufführung eines Kampfes mit der abwesenden Mutter. Und klar ist eigentlich von Anfang an: Es siegt der Erzähler. „Die Mutter wird gegenstandslos, ein Wortgebilde, das seine Macht über mich verliert“, heißt es gegen Ende des Buches.
Der Roman kann einen beim Lesen gehörig durchschütteln. Rührung und der Gedanke „So geht das alles doch nicht“ liegen oft nah beieinander. Die Qualitäten des Buches sind leicht zu benennen. Sie liegen in der Radikalität, in der hier ein Erzähler sein Innerstes nach außen kehrt; welche seelischen Verheerungen die Erfahrungen frühkindlicher Lieblosigkeit noch ein halbes Jahrhundert später bewirken können, beglaubigt er eindrucksvoll (allerdings würde auch niemand mehr die Existenz solcher Spätfolgen bestreiten). Und sie liegen in der beeindruckenden Sprachkraft des Erzählers. Dass Peter Wawerzinek für einen Abschnitt dieses Buches in Klagenfurt den Bachmannpreis bekam, versteht man sofort. Manche Seiten, zumal vorgelesen, hauen einen in ihrer lyrischen Intensität schier um.
Nicht ganz so leicht zu benennen sind die Aspekte, die insgesamt aber doch ein Unbehagen hinterlassen. Aber es lohnt sich, ihnen nachzugehen, möglicherweise kann man hier sogar etwas Prinzipielles erkennen. Das Unbehagen entsteht nämlich keineswegs dadurch, dass im Buch ein privates Schicksal exzessiv entblößt wird; das ist schon okay – eh klar, dass sich ein Romanautor ein Stück weit die Haut vom Körper reißen muss. Das Unbehagen entsteht vielmehr durch die ungebrochene Art und Weise, wie Peter Wawerzinek das tut.
Letztlich rennt er mit unglaublichem Aufwand schlicht offene Türen ein, und das realisiert man halt irgendwann. Als Erstes die Joseph-Beuys-Tür. An die Setzung dieses Großkünstler-Schamanen, dass das Zeigen der eigenen Wunden bereits etwas mit ihrer Heilung zu tun hat, glauben wir in Wirklichkeit zwar nicht mehr (außer in dem konkret psychoanalytischen Sinn, dass es immer gut ist, sich seiner psychischen Verletzungen bewusst zu sein). Aber dieses künstlerische Schema liegt im kollektiven Gedächtnis noch bereit, wie ja auch die allgemeine Emphase zeigte, mit der Christoph Schlingensief, der seine Krankheit ausstellte, nach seinem Tod seliggesprochen wurde. Und indem Peter Wawerzinek es übererfüllt, vermag er erst ein Stück weit zu beeindrucken und bald aber auch Widerstände zu erzeugen.
Ähnlich mit der Form-Inhalt-Tür. Dass sich der Inhalt durch die Form nicht nur veredeln, sondern geradezu transzendieren lasse, an diese Setzung der idealistischen Ästhetik glaubt man auch nicht mehr wirklich. Aber auch hier existieren Erinnerungsspuren – zumal Thomas Bernhard die Form der Suada, des anklagenden Prosamonologs, bis hin in die höchsten Höhen der Übertreibungskunst getrieben hat. Ganz kommt man von diesen Vorerwartungen an sogenannte große Literatur offenbar nicht los. Letztlich besagen sie: In großer Literatur beginnt ein Individuum aus existenzieller Not heraus zu singen (Goethe: „… gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide“). Und Peter Wawerzinek vermag sie ein Stück weit zu erfüllen. Aber ohne Signale, dass das Ganze, alles in allem, doch ein Sprachspiel und damit „nur“ Literatur ist, geht es halt nicht mehr.
Die Größe und auch das, man muss es einfach sagen, Peinliche dieses Romans liegen in seinem ungebrochen pathetischen Kunstanspruch. Peter Wawerzinek will wirklich noch einmal glauben machen, dass man individuelle Lebenskatastrophen im Schreiben transzendieren kann. Sobald man das als heutiger abgeklärter Leser aber raushat – und das geht bei der Vehemenz dieser Prosa ziemlich schnell, spätestens so nach dreißig, vierzig Seiten –, beginnt man, Dinge zu vermissen. Einen Moment der stillen Trauer um die nie erhaltene Mutterliebe zum Beispiel. Und auch Beschreibungen, die nicht gar so betont sprachmächtig, aber dafür schlicht etwas genauer sind – und vor allem über das Innenleben des Ich-Erzählers hinausgehen.
Das wird zunehmend zum Problem. Es gibt schön gehässige Stellen, etwa über die Adoptionsmutter, die den Ich-Erzähler eher dressieren als erziehen wollte, und später auch über großsprecherische Schriftstellerkollegen – aber im Grunde bleiben alle Figuren Karikaturen, außer dem Erzähler. In der Kinderperspektive der ersten Romanhälfte ergibt das noch Sinn (Kinder gucken so), aber in der zweiten Hälfte, beim erwachsenen Protagonisten, nicht mehr. Wenn irgend jemand Tschechows berühmter Mahnung, als Erzähler nicht über seine eigenen Figuren zu urteilen, zuwiderhandelt, dann Peter Wawerzinek.
Dass es zu weh tut, sich in die Mutter, die einen verlassen hat, hineinzuversetzen, kann man nachvollziehen; am Schluss kommt es nach über fünfzig Jahren zu einer Begegnung zwischen Erzähler und Mutter, aber sie ist eine einzige Enttäuschung. Doch auch die anderen Figuren werden ständig abgeurteilt. Der Ich-Erzähler ist und bleibt im Kampf mit sich selbst und seinem Schicksal verstrickt.
Insgesamt ist „Rabenliebe“ ein hoch interessanter Fall. Mutterliebe ist weder etwas, was einem auf Befehl verfügbar ist (als Mutter), noch etwas, was man sich garantieren lassen kann (als Kind). Das kann einen literarisch schon umtreiben. Und „Rabenliebe“ ist mehr als Selbsttherapie eines Erzählers, das unbedingt. Selten aber ein Buch gelesen, das einem mit solcher Ausdruckskraft demonstriert, wie man darüber eben nicht (mehr) schreiben kann, wie dieses.
Wie sonst? Weniger Kunstwille wäre ein Schritt. Und am allermeisten beeindruckt hätten einen wohl Neugier darauf, wie es zu diesem Schicksal hatte kommen können, und damit eine Unabhängigkeit des Geistes auch noch in so einer Mutterkatastrophe. Viel verlangt! Niemand sagt, dass Schreiben darüber leicht ist.
■ Peter Wawerzinek: „Rabenliebe“. Galiani, Berlin 2010, 432 S., 22,95 Euro; das Buch steht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis
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