Das fiktive Kapital soll schmelzen

KRISE Der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann argumentiert in einem Vortrag am Frankfurter Institut für Sozialforschung gegen die Renationalisierung der europäischen Wirtschaftspolitik

Vom Ende der Krise reden nur Zweckoptimisten und professionelle Gesundbeter der Wirtschaftspresse. Der emeritierte Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann referierte am Montagabend im Frankfurter Institut für Sozialforschung über den Status der Krise und deren Bekämpfung.

Anlass war Wolfgang Streecks Buch „Gekaufte Zeit“, das auf den Adorno-Vorlesungen beruht, die Streeck am selben Ort vor zwei Jahren gehalten hat. Streeck vertrat darin zwei Thesen, denen Deutschmann nun widersprach. Streeck interpretierte die EU-Politik als Versuch, in Europa ein neoliberales Regime durchzusetzen, das der liberale Ökonom Friedrich A. Hayek (1899–1992) in den dreißiger Jahren entworfen habe. Dem setzte Deutschmann entgegen, dass man Hayek nicht als den Vater des Neoliberalismus bezeichnen könne, weil er im Gegensatz zu den mathematischen Sandkastenspielen der neoklassischen Schule von empirisch realistischen Voraussetzungen ausging und eine transnationale, marktgerechte Ordnungspolitik entwarf, in der staatliche Eingriffe oder eine transnationale Währung nicht vorgesehen waren.

Wichtiger als diese dogmengeschichtliche Kontroverse ist für Deutschmann jedoch Streecks Deutung der Krise. Streeck machte die gemeinsame Währung zum Angelpunkt der Krise und sah die Lösung darin, den Euro wieder abzuschaffen und die Wirtschafts- und Währungspolitik zu renationalisieren. In einer solchen Renationalisierung sieht Deutschmann – wie vor ihm Jürgen Habermas, Claus Offe und Ulrich Beck – einen politisch unberechenbaren Parforceritt. Ökonomisch-sozial führe diese Option in eine Sackgasse, die Rückkehr zu nationalen Währungen funktioniere nicht. Es öffne nur der Spekulation der Finanzmärkte gegen schwache Währungen Tür und Tor. Die theoretische Möglichkeit, dass sich wirtschaftlich schwache Länder durch die Abwertung ihrer nationalen Währungen Vorteile beim Export ihrer Produkte verschaffen könnten, ist eine papierne Fiktion.

Deutschmann sieht eine Lösung der Krise nicht in der Renationalisierung der Ökonomie, sondern in einer transnational koordinierten Politik der Reregulierung der Märkte, einer demokratisch verträglichen Abwicklung von Schattenbanken, einer Abschmelzung des fiktiven Kapitals von 212 Billionen Dollar durch Vermögenssteuern sowie einer Eigenkapitalerhöhung der Banken auf das Niveau von rund 20 Prozent, das diese von privaten Kunden verlangen – momentan liegt ihre Eigenkapitaldeckung bei 3 Prozent. Daran und nicht an einer Renationalisierung sollten Politik, EZB und EU-Parlament arbeiten, meinte Deutschmann. Das Publikum stimmte ihm zu. RUDOLF WALTHER