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Abstraktionen der See

AUSSTELLUNG In der Alfred Ehrhardt Stiftung sind die fotografischen Anfänge des Namengebers zu sehen. Die Schwarzweißaufnahmen von „Das Watt“ bilden ein Meisterwerk neusachlicher Avantgarde-Fotografie

Was zu malen verboten ist, erschaffen Wind und Wasser für die Kamera

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die Einleitung von Kurt Dingelstedt zu Alfred Ehrhardts Bildband „Das Watt“ von 1937 hat es in sich. Immerhin meint der Autor, Kustos am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die BetrachterInnen des Bandes könnten sich provoziert fühlen, „weil der künstlerische Mensch ihm wieder einmal vorausgeeilt ist und ihm eine neue Landschaftsauffassung geradezu aufzuzwingen gewillt ist“.

Anders gesagt: Alfred Ehrhardts Schwarzweißaufnahmen vom Watt sind ein Musterbeispiel der Avantgardefotografie der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland. Denkwürdigerweise zu einem Zeitpunkt, als der Avantgarde in Deutschland gerade mit dem Kampfbegriff der „entarteten Kunst“ der Garaus gemacht wird. Alfred Ehrhardt (1901–1984) ist ursprünglich als Organist, Chorleiter und Komponist ausgebildet, will dann aber als bildender Künstler, als Maler reüssieren. 1928/29 studiert er bei Josef Albers am Bauhaus, um danach an der Landeskunstschule in Hamburg die Leitung des ersten Vorkurses für Materialkunde außerhalb des Bauhauses zu übernehmen. Wegen dieser Nähe zum „kulturbolschewistischen“ Bauhaus wird er 1933 von den Nazis aus dem Hochschuldienst entlassen.

Ehrhardt rettet sich in eine Stellung als Kirchenmusiker in Cuxhaven, wo er bei vielen Spaziergängen die Gegend erkundet, besonders den Bereich zwischen den Inseln Scharhörn und Neuwerk. Dabei entdeckt er nicht nur die wechselvolle Meereslandschaft des Watts, sondern auch die Fotografie und den Film als Mittel, diese Landschaft zu dokumentieren. In geradezu wissenschaftlich konsequenter und systematischer Weise sammelt er Ansichten des Watts. Analog zu Karl Blossfeldts fotografischen Pflanzenstudien „Urformen der Kunst“ (1928), denen Alfred Ehrhardts genauer, schlichter und präziser Blick auf das Wattenmeer gleichkommt, ließe sich „Das Watt“ auch mit „Kunstformen der Natur“ treffend beschreiben.

In denkwürdiger Ironie legt die Kunstfeindlichkeit des nationalsozialistischen Regimes die Grundlagen für eine Veröffentlichung, die zu berühmten Publikationen des Neues Sehens und der neusachlichen Fotografie, etwa eines Albert Renger-Patzschs, aufschließt. Alfred Ehrhardt betrachtet sie zudem als Hommage an die malerische Abstraktion des von ihm hochgeschätzten Paul Klee. Denn was zu malen verboten ist, erschafft die Natur für die Kamera. In Zusammenarbeit mit dem Wind malt das im Sand abfließende Wasser die hinreißendsten Geometrien in den Schlick, willkürliche, aber sich regelmäßig wiederholende Formen, kleinteilige Muster und große, lang gezogene kurvige Flächen, strenge Reihungen und Strukturen, die an die Äderung eines Blattes erinnern bis hin zu rein abstrakten Ornamenten.

Wie Alfred Ehrhardt „Zu den Bildern und Aufnahmen“ schreibt, wurden sie alle in Augenhöhe aus dem Stand aufgenommen, ohne Stativ und andere Hilfsgeräte. „Keines der 96 Photos ist durch eine ausgeklügelte Handhabung der Camera zustande gekommen, und auf der andern Seite ist keine Aufnahme dabei, die brav und artig herunterphotographiert ist“. Von diesen 96 Ansichten zeigt die Alfred Ehrhardt Stiftung nun 70 Abzüge, darunter fünf Prints im Format 20 x 30 cm aus den Jahren 1967, aber vor allem kleinere, mittlere und große Prints im Format 30 x 50 cm, wie sie der Fotograf 1936 in einer Verkaufsausstellung im Hamburger Kunstgewerbeverein gezeigt hatte. Die Ausstellung wurde danach im Folkwang Museum Essen gezeigt; in Berlin war sie in der Galerie Nierendorf zu sehen, bevor sie nach Kopenhagen, Stockholm, London und Paris wanderte. 1937 erschien der Bildband im Heinrich Ellermann Verlag.

Da die von seinem Sohn, dem Münchener Vermögensverwalter Dr. Jens Ehrhardt ins Leben gerufene Alfred Ehrhardt Stiftung schon 2002 ihre Arbeit der wissenschaftlichen Erschließung des Ehrhardt’schen Werks aufgenommen hat, wundert es, dass erst jetzt die bahnbrechenden Fotografien des „Watt“ gezeigt werden. Aber tatsächlich dauerte es über zehn Jahre, den Bestand durch Schenkungen, vor allem aber durch Ankäufe von Originalabzügen so zu ergänzen, dass man mehr als zwei Drittel der Motive in der Ausstellung zeigen kann. Glückliche Fügung der langen Dauer: 2012 war der Pariser Verleger Xavier Barral bei seinem Besuch der Frankfurter Buchmesse in einem Antiquariat auf Ehrhardts Bildband von 1937 gestoßen.

Da Barral gerade dabei war, ein Prachtwerk mit Marsfotografien zu veröffentlichen und die Bilder des Watts so überraschende Strukturähnlichkeit mit vielen der Marsbilder zeigten, ging er auf die Alfred Ehrhardt Stiftung zu und bot an, das Buch als Faksimile neu aufzulegen.

■ Bis 27. April, Auguststr. 75, Di.–So. 11–18, Do. bis 21 Uhr. Alfred Ehrhardt: „Das Watt“. Faksimilie-Auflage, Edition Xavier Barral, Paris 2014, 96 SW-Aufnahmen, 112 Seiten, beigelegte Texte in Englisch/Französisch 45 Euro

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