: Klassik vom Staatsbetrieb
Einst war der Sowjet-Monopolist Melodija die treue Stimme seines Herrn. Heute ist es das wohl größte unbekannte Major Label der Welt. Ein Besuch in Moskau
VON GUNNAR LEUE
Melodija, das einstige Monopolstaatslabel der Sowjetunion, es lebt noch. Nicht nur das, nach den Worten von Generaldirektor Kirill Baschirow, nachzulesen auf der Melodija-Homepage, ist die Firma heute eine junge dynamische Company. Davon merkt man freilich nichts, wenn man die Zentrale auf einem Hof am Moskauer Twerskoi Boulevard betritt. Niemand wuselt geschäftig über die Gänge des alten Hauses, das nicht nur die Brandschatzung Moskaus durch Napoleons Truppen 1812 überstanden hat, sondern auch in der Sowjetzeit äußerlich in Ruhe gelassen wurde. Seit vier Jahrzehnten ist an dem zweistöckigem Gebäude nichts mehr gemacht worden. Anderswo geht es der Plattenindustrie auch nicht rosig. Warum sollte es ausgerechnet hier anders sein?
Kann man ja mal drüber reden, etwa mit Andrei Troschin, Repertoiremanager des Labels. Reden scheint zwar nicht die Lieblingsbeschäftigung des Mannes, aber wenn er etwas sagt, dann oft überraschende Sachen wie: „Die Musikpiraten haben in den Neunzigerjahren das Interesse der Russen an Musik gerettet, weil sich der Staat nicht darum gekümmert hat – und die westlichen Majors auch nicht.“ Erstaunlich für einen Labelmanager, dessen Firma von Piraten umzingelt und bedroht ist. Troschin redet nicht nur anders als ein normaler Musikmanager, er sieht auch nicht wie einer aus. Bei Plattenbossen denkt man ja – Branchenkrise hin oder her – immer noch entweder an koksende, durchgeknallte Freaks oder an smarte Businesstypen. Troschin ist weder das eine noch das andere. Mit seinem rotbraunen Rauschebart und dem versteckten Lächeln schaut er, mit grauem Westover über grauem Hemd, ein bisschen aus wie eine Kreuzung aus Rasputin, Schelm und Beamter fürs Briefmarkenwesen. Tatsächlich ist Troschin auch kein gelernter Musikmanager, sondern Biologe.
Da die Plattenfirma zwar legendär, aber nicht allseits bekannt ist (in der DDR kannte sie jeder), ein kurzer Rückblick: Melodija wurde 1964 nach dem Zusammenschluss aller sowjetischen Labels, Presswerke und Tonstudios gegründet. Mit sage und schreibe 120.000 Mitarbeitern war sie, wenn man so will, die größte Plattenfirma der Welt. Melodija besaß mehr als 40.000 eigene Verkaufsstellen in über 70 Ländern der Erde, die meisten natürlich in der UdSSR. Größe war im Planwirtschaftsland gemäß der Tonnenideologie immer eine wichtige Kennziffer, aber mit der quantitativen Dimension von Melodija gegenüber dem Westen anzugeben kam nicht mal den Genossen in den Sinn. Allzu sehr wurde das Unternehmen als ideologischer Wächter betrachtet, weniger als Unterhaltungsanbieter.
Entsprechend lethargisch schaukelte der Musikdampfer dahin, immer hübsch an den internationalen Trends der Zeit vorbei, jedenfalls was den Pop betraf. Instrumental- und Estradenmusik, wie die Populärmusik in der Sowjetunion hieß, stand im Lande Lenins offiziell nicht eben hoch im Kurs. Lange galt sie als bourgeoise Unterhaltungsware. Die jungen Komsomolzen sollten lieber Aufbaulieder hören, zu denen sich gut in Richtung Kommunismus marschieren ließ. Eine Zensurkommission aus Labelredakteuren, Vertretern des Komponistenverbandes, des Kulturministeriums und der Partei bestimmte, was eingespielt wurde. Das Ergebnis war nicht gerade der Hit, nur einmal ging richtig etwas ab. Ein Lied von Maja Kristalinskaja zum Film „Dust“ wurde von 1968 bis 1973 sieben Millionen Mal verkauft, Melodijas Single-Rekord.
Ansonsten hat es Troschin, der 2004 zu Melodija kam, nicht so genau mit Absatz- und Umsatzzahlen. „Das lief alles nicht so klar.“ Was er damit auch meint: Die Anweisungen von oben wurden auf klassisch-sozialistische Weise übergangen. Wenn die Kommission für die Bestimmung der Auflagenhöhe aus Gründen der ideologischen Vorsicht vorgab, dass von einer Tanzmusikplatte nur 100.000 Stückzahlen gepresst werden sollten, dann wurden nur 100.000 gepresst – aber eben in jedem einzelnen der zehn über die Sowjetunion verstreuten Presswerke. Nicht so genau nahm man es auch mit westlichen Lizenzalben: Ende der Achtzigerjahre wurden sogar selbst zusammengestellte Best-of-Platten von The Doors, Rolling Stones und Led Zeppelin verkauft.
Dass das offenbar nicht ganz legal passierte, wie Troschins Miene verrät, tat der Beliebtheit der Platten damals keinen Abbruch. Auch nicht bei jungen Musikfreunden aus der DDR, die sie gern als Mitbringsel aus dem Bruderland mitbrachten. Der Grund für die plötzliche Kühnheit von Melodija: Das Label – das war eine weitere Besonderheit – sollte eben nicht nur dekadenzfreie Musik verbreiten, sondern auch noch Geld einbringen. Mit einheimischen Künstlern klappte das noch am besten, vor allem mit Schlagersängerin Alla Pugatschowa, die in den Achtzigern durch ihre Duette mit Udo Lindenberg auch im Westen bekannt wurde. Es herrschte Perestroika, und die Zeiten schienen sich auch für den ungeliebten Exmonopolisten des alten Systems zum Besseren zu ändern.
Doch die Hoffnung währte nur kurz, eigentlich war es nur der Auftakt zu den Chaosjahren, die Melodija in eine tiefe Krise und fast in den Abgrund stürzten. Wobei das Chaos durchaus kreativ war. Die jungen Enthusiasten, wie Troschin sie nennt, hatten sich der Firma bemächtigt und unter anderem lauter früher verbotene Musik aus den Archiven geholt und einfach veröffentlicht. Natürlich ohne die Künstler entsprechend zu entlohnen, aber die freuten sich vor allem, dass ihre Musik nun doch noch erschien.
Die Majors im Westen hatten damit nichts am Hut, sondern vielmehr die Sorge, die Russen könnten mit ihrem beachtlichen Klassikrepertoire bald den Westen mit Billigprodukten überschwemmen. 1991 ging BMG eine Kooperation mit Melodija ein, das fortan als eine Art Sublabel fungierte, zwölf Jahre lang – laut Troschin keine gute Zeit für die Firma. Seine korrupten Vorgänger hätten nicht nur alles Mögliche vertickt, irgendein Amerikaner hatte sich auch die Rechte am kompletten Klassikkatalog, dem größten Schatz des Labels, gesichert und sie in alle Welt verhökert.
Melodija, das sich als seriöses Klassiklabel mit Hauptausrichtung auf Westeuropa und Asien neu profilieren will, hat nun den Schaden. Es müsste gegen die Verwendung des Materials klagen, wozu dem auf 60 Angestellte geschrumpften Unternehmen das Geld fehlt. Die Firma gehört zwar weiterhin dem Staat, erhält aber keine Subventionen und muss irgendwie über die Runden kommen. Ähnliches gilt für die Angestellten, die alle einem Nebenjob nachgehen. Troschin sagt, er schreibe wissenschaftliche Bücher. Gerade weil er und seine Kollegen nicht aus der Musikindustrie kämen, würden sie ihren Job mit Begeisterung machen. Seine Mimik bleibt unbeirrbar im Ausdruckslosen, trotzdem ist Stolz spürbar, wenn er über die Edition einer CD-Reihe mit sowjetischem Easy Listening aus den Sechzigern spricht, den sie aus den Tiefen des riesigen Archivs bargen. Eine exzessive Auswertung des Backkatalogs ist jedoch nicht möglich. „Künstler wie Alla Pugatschowa haben ihren Katalog in den letzten 15 Jahren selbst herausgebracht, die konnten ja nicht rumsitzen und abwarten“, sagt Troschin.
Im Archiv lagert noch manch Außergewöhnliches. Etwa Orchesteraufnahmen vom Königlichen Orchester Kabul aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren oder etliche Aufnahmen von Dean Reed. Wenn Tom Hanks seinen Kinofilm über den amerikanischen Superstar in der DDR doch noch fertig bekommt und die Melodija-Leute clever sind, ließe sich vielleicht direkt etwas verdienen. Troschin zuckt mit den Schultern. Sein Blick sagt: kann sein.
Von den fünf Alben, die im Durchschnitt pro Woche veröffentlicht werden, sind die meisten aus dem Klassikbereich. Für die Ausrichtung auf den westlichen Klassikmarkt hat man sich entschieden, weil das Schwarzmarkt-Dorado Russland keine Basis für seriöses Wirtschaften bietet. Da helfen auch die jährlichen Auszeichnungen für hervorragende Aufnahmen nicht weiter. „In Russland gibt es nur einen illegalen Markt mit Raubkopien“, sagt Troschin. Es existieren zwei Piratenlabel, die sämtliche Klassik aus aller Welt schon vor der offiziellen Veröffentlichung auf den Schwarzmarkt bringen. Mit illegalem Vertrieb will Melodija nichts zu tun haben, man ist immerhin in Staatshand. In einem Ministerium, zusammengefasst mit Öl-, Gas- und Atomwirtschaft.
Das schließt an bizarre Traditionen der Firmengeschichte an. Zu der gehört auch, dass das Label noch bis vor sechs Jahren sein Tonstudio in einer 1917 von den Bolschewiki konfiszierten und ausgeräumten anglikanischen Kirche hatte, direkt am Altarplatz. Dort gibt es nämlich die, nach dem Moskauer Konservatorium, zweitbeste Akustik in der Stadt. Ein Ministudio ist immer noch in der an die Briten zurückgegebenen Kirche untergebracht. Für den englischen Pfarrer kein Problem: „Wir arbeiten gut zusammen mit Melodija.“ So Gott will, wird Melodija bald wieder expandieren und eigene Läden eröffnen. Vielleicht sogar in Berlin, wo es zu DDR-Zeiten ebenfalls ein Melodija-Geschäft gab.
GUNNAR LEUE, 43, lebt als freier Autor in Berlin
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