: Nur ein Rauschen
Als am 11. September 2001 die Twin Tower zusammenstürzten war es in Manhattan still wie in einer Winternacht. Eine Erinnerung
VON NICOLA LIEBERT
Dienstag, 11. September – endlich mal ausschlafen. Eigentlich müsste ich auf einem zweitägigen volkswirtschaftlichen Kongress im Marriott-Hotel sein, Adresse: 3 World Trade Center. Aber der erste Tag war derart langweilig gewesen, dass ich mir den Morgen freigegeben habe. Aus wohligem Halbschlaf schreckt mich um neun Uhr das Telefon auf. „Schalt den Fernseher ein!“, begrüßt mich der taz-Redakteur. „Das World Trade Center brennt.“
Schnell ein T-Shirt, kurzes Röckchen und Sandalen übergestreift und aufs Fahrrad geschwungen. Es war ein herrlicher Tag. Ein paar Feuerwehrleute interviewen, ein paar vor dem Feuer geflohene Angestellte, und dann eine kurze Reportage schreiben.
An der Kreuzung First Avenue und Houston Street hatte man einen guten Blick nach Süden auf die brennenden Türme. Eine Menschentraube stand still da und starrte. „Wie in ‚Independence Day‘ “, dachte ich. Zu seltsam war das Ganze, zu entrückt, um wahr zu erscheinen. Ein Feuer in einem vierstöckigen Mietshaus hätte mir hingegen atemlosen Schrecken eingeflößt.
Im Financial District waren inzwischen die Bürohochhäuser evakuiert worden worden. Menschen wuselten auf den Straßen. Aber Feuerwehr, Polizei, Absperrungen – Fehlanzeige. So wäre ich ungehindert an mein Ziel gekommen: den Platz zwischen den Zwillingstürmen. Als ich noch anderthalb Häuserblocks entfernt war, merkte ich, dass die Leute sich umwandten und losrannten, mir entgegen.
Aber was konnte dort schon so Schlimmes sein? Ich stellte mich in die Mitte der Straße, um das World Trade Center anzuschauen. Und dann sah ich eine zig Meter hohe dunkle Wolkenwand auf mich zurollen. Als Erstes hielt ich mir die Ohren zu. Schließlich geht doch ein Hochhauseinsturz mit ungeheurem Donnern einher, oder? Falsch: Es war nur ein Rauschen zu hören. Hysterisch geschrien hat übrigens auch niemand – schönen Gruß an die Regisseure von Katastrophenfilmen.
Als ich das Thema Trommelfelle durchhatte, kam ich auf die Idee, den Rest von mir zu schützen. Die Wolke aus Asche und Schutt bewegte sich viel schneller, als ich es in dieser Menschenmasse konnte. Ich verzog mich in die nächste Seitenstraße. Die Aschewand rollte auf der Hauptstraße vorbei. Im nächsten Moment wurde es dunkel, stockdunkel. Und still wie nie in Manhattan. Wie in einer Winternacht im Tiefschnee. Nur dass die Luft nicht voll Schnee war, sondern voll dicker Staubflocken. Das Atmen war fast unmöglich, durch ein schnell herausgekramtes Taschentuch ging es gar nicht. Mühsam sog ich den Staub in die Lunge.
Ich hatte, zu meiner Verwunderung, eigentlich keine Angst. Ich war ruhig, sachlich – und naiv. Erst als ich scheinbar allein im Dunklen stand, fiel mir ein, dass ich jetzt vielleicht sterbe, getroffen von Trümmern oder erstickt. Aber auch das war ein seltsam ferner Gedanke.
Die Schwärze verwandelte sich langsam in nebliges Grau. Mein Hirn arbeitete jetzt nur noch an einer Frage: Welche Richtung ist weg vom World Trade Center? Ich tastete mich vorwärts, mein Fahrrad eng neben mir. Nur im dichten Nebel niemanden versehentlich anrempeln – auf diese Minimalhöflichkeit kam es mir an. Die Frage, ob jemand verletzt war und Hilfe brauchte, kam mir nicht in den Sinn. Bis heute habe ich diese Erfahrung mit mir selbst nicht ganz verdaut. Es heißt ja, dass sich erst in der höchsten Not zeigt, auf wen man sich wirklich verlassen kann …
Ein paar Häuserblocks weiter konnte man wieder einigermaßen sehen. Ich setzte mich aufs Fahrrad und fuhr mit kratziger Kehle und verklebten Augen heim. Vorbei an langen Trecks staubbedeckter Gestalten. Laut wurden manche nur, wenn sie ihr empfangloses Handy verfluchten. Manche schmissen es auf die Straße und trampelten darauf herum. Zu Hause riss ich mir die dreckigen Klamotten vom Leib, setzte mich an den Rechner und schrieb einen extratrockenen Artikel. „Augenzeugen berichteten gegen neun Uhr morgens Ortszeit, dass ein Flugzeug in einen der beiden Zwillingstürme des World Trade Centers geflogen war.“ So ähnlich fing er an. Als wäre ich selbst nicht mal in der Nähe von New York gewesen.
Dann kam ich schlagartig doch dort an. Ich schnappte nach Luft und begann zu schlottern. Mir wurde schlecht und schwarz vor Augen. Ich tastete mich einen Stock höher zu unseren italienischstämmigen Nachbarn. Jemand drückt mich auf einen Stuhl und gab mir ein Glas Wasser.
Langsam begannen zwei Erkenntnisse in mein Bewusstsein zu sickern. Erstens, dass ich außer einer Unterhose nichts anhatte. Zweitens, dass Richie, der 16-jährige Sohn der Nachbarn, Wichtigeres im Sinn hatte, als sich um mich, eine nackte Frau in seiner Küche, zu kümmern. Seine Mutter arbeitete im World Trade Center. Er versuchte panisch und erfolglos, sie anzurufen, aber inzwischen ging nichts mehr im Telefonnetz von New York. Gerade wollte er sich auf den Weg dorthin machen.
Nachwort: Am Abend des 11. September stand die Familie vor unserem Haus, wir tauschten unsere Erlebnisse aus. Der Mutter war nichts passiert. Die Familie, Vater Rick, seine Frau und die zwei Kinder, nahmen mich in die Arme und erklärten feierlich: „Du bist nicht allein in New York. Du wirst hier immer eine Familie haben: uns.“
So war New York in den Tagen nach dem 11. September 2001. Es war eine andere Stadt geworden: lebenswerter und liebenswerter. Jeder wollte helfen und wissen, wie es den anderen ergangen war. Von überschnappendem Patriotismus und der Kriegslüsternheit, mit der die Kamarilla um Präsident George W. Bush schnell das ganze Land ansteckte, war noch nichts zu spüren.
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