piwik no script img

Die Plastiktüte als Wohnersatz

Träume von Luxus und die Rettung des Privaten: Die Ausstellung „Revisiting Home“ in der NGBK erzählt vom Wohnen und mehr noch den Ungerechtigkeiten des Lebens

Wohnen und Leben passen nicht immer zusammen. Die Wohnwirklichkeit sollte eigentlich die architektonische Hülle für den Lebensentwurf bieten. Tatsächlich aber haben sich die Formen und (Un-)Möglichkeiten des Wohnens in den letzten Jahrzehnten stärker und schneller differenziert, als es Politik und Ökonomie vorausplanen und steuern konnten.

Die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschieben sich. Öffentliche Räume werden zunehmend privatisiert, Privatwohnungen in den virtuellen Raum erweitert und zugleich immer häufiger zu Festungen der Hochsicherheitstechnik. Soziale Veränderungen im Arbeitsleben, in Beziehungen und familiären Strukturen bedingen neue und breitgefächerte Lebensstile und Wohnideen. Ein Projekt der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst unterzieht das „Wohnen als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft“ nun einer künstlerisch-soziologischen Überprüfung: „Revisiting Home“.

Für Obdachlose ist Wohnen an sich bereits zum Luxus geworden. Wer dem Modell von Erwerbsarbeit, Girokonto und fester Adresse erst einmal entglitten ist, findet sich schneller bei einer karitativen Essensausgabe wieder als bei der Schlüsselübergabe mit dem neuen Vermieter. Darauf reagiert der amerikanische Künstler Michael Rakowitz mit paraSITE, dem Angebot einer symbolischen und praktischen Strategie, mit deren Hilfe Obdachlose in der Stadt überleben können. Aus Plastiktüten und Folien zusammengeklebten Zelte und Schläuche werden an die Abluftgebläse von Gebäuden angeschlossen und bilden so eine temporäre Struktur, die als Rückzugsort und Schlafstelle dient. ParaSITE rückt die Obdachlosen wieder mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit und bietet den Betroffenen ein Konzept, sichtbar etwas gegen die eigene Misere zu unternehmen. Inzwischen gelang es über dreißig Wohnungslosen damit, von der Straße wegzukommen.

Wie sich ein letzter Rest privater Atmosphäre konstruieren lässt, dokumentiert Andrijana Stojković (aus Serbien/Montenegro) in ihrem Film „Zuhause“: Ein älteres Ehepaar sitzt auf einem Bett und geht alltäglichen Verrichtungen nach: lesen, Uhren reparieren, Socken stopfen, sich unterhalten. Erst zum Ende des Films geht die Kamera in die Totale. Die beiden leben in einem Sammelasyl in einer Sporthalle. Sie waren aus ihrer bosnischen Heimat vertrieben worden und lebten bei Fertigstellung des Films seit mehr als drei Jahren in dieser Situation.

Corinna Schnitt präsentiert einen DVD-Loop und kondensiert daraus den kollektiven Traum von US-Teenagern, erfragt in zahlreichen Interviews: „Living a Beautiful Life“. Sie macht uns mit einem fiktiven Paar bekannt, das im absoluten Überfluss von Geld, Gesundheit und Glück lebt und unerträglich beseelt davon erzählt. Womöglich steht uns ja tatsächlich eine Proto-Realität à la „Die Frauen von Stepford“ ins Haus.

Die Beiträge der Künstler und Künstlerinnen fungieren nicht als Illustration von Thesen über die Gegenwart. Vielmehr beleuchten sie individuelle Punkte des Phänomens Wohnen. Zu „Revisiting Home“ gehört auch ein Katalog mit vielen Essays, die die Ausstellung in eine Diskussion um die gegenwärtige Stellung des Wohnens einbettet. Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann, Professor an der Humboldt-Universität, informiert über den Wandel der Wohnmodelle und die gesellschaftliche Neuorientierung des Standards Wohnen. Der Künstler Michael Zinganel erörtert mit dem Co-Direktor des Hamburger Instituts für Sicherheits- und Präventionsforschung Fritz Sack die hysterischen Forderungen nach innerer Sicherheit, das „Heiligtum der Privatheit und den angstgetriebenen Kontrollwahn“ der Gesellschaft. Diedrich Diederichsen plaudert zum Abschluss aus dem „Kinderzimmer der eigenen vergangenen Zukunft“ und lenkt einmal mehr den Blick auf die Selbstverwirklichungsmaxime als Grundgedanken des zeitgenössischen Lebens.

MARCUS WOELLER

„Revisiting Home“, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Oranienstraße 25, bis 15. Oktober 2006, tägl. 12–18.30 Uhr. Katalog 17 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen