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Ein Lebenstraum schreit nach günstigen Umständen

Daniela Lehmeier wird geboren. Geht zur Hauptschule. Wird entlassen. Kriegt ein Kind. Wird entlassen. Wird geschieden. Wird entlassen. Ein Leben in Deutschland

Schulden. Arbeitslosengeld. Abtreibung. Gefahr der Zwangsräumung

VON NADJA KLINGER UND JENS KÖNIG

Vorm Spar-Markt in der Eglseer Straße gibt es seit ein paar Wochen eine Bushaltestelle. Das ist ideal. Die Kunden können bequem bis vor die Tür fahren, Beutel und Tüten voll stopfen und dann von der Kasse direkt wieder in den Bus fallen. Man sollte, sobald einer hält, die zweite Kasse öffnen. Man sollte das Sortiment erweitern. Den Backstand wieder eröffnen. Wieder Fleisch und Wurst anbieten. Man weiß gar nicht, woran man zuerst denken soll.

Macht nichts. Die Busse bringen keine Kunden. Die Haltestelle war nur wieder so ein Hoffnungsschimmer.

Daniela Lehmeier wird 1975 hier in Amberg in der Oberpfalz geboren. Nach der Hauptschule will sie Verkäuferin werden. Sie will aussuchen, abwiegen, einpacken, Geld wechseln. Sie will Kunden beraten, ihnen einen schönen Tag wünschen und sie bitten, wieder zu kommen. Ein ganzes Leben lang. Ihre Augen sind groß und rund. Es ist nicht leicht, sich mit sechzehn eine Vorstellung vom Leben zu machen, das einen erwartet.

Sie geht bei „Glas Natter“ in die Lehre. Das Geschäft liegt im schicken Zentrum von Amberg, das von der alten Stadtmauer eingeschlossen ist. Man kauft dort edles Glas, Service, Bestecke von Markenfirmen, teuren Hausrat. Im zweiten Lehrjahr wird sie schwanger. Im Januar 1995 bringt sie André zur Welt. Sie ist noch nicht einmal zwanzig. Als das Baby zwei Monate alt ist, entschließt sie sich, es jeden Morgen zu den Großeltern zu bringen und die Ausbildung fortzusetzen. Weit und breit ist keine gute Alternative in Sicht. Doch tut die Entscheidung fortan weh. André hängt mehr an der Oma als an seiner Mutter. Bis heute. Zwar haben die Lebensumstände Daniela Lehmeier und ihren Sohn in den letzten Jahren eng aneinander gebunden. Sie sorgt sich um ihn. Er sorgt sich um sie. Man kann es aber auch so sagen: Die Umstände – die Sorgen des Alltags – waren immer zwischen ihnen. Sie haben die beiden nie einfach mal in Ruhe gelassen.

Das Lehrmädchen Daniela muss durch die Prüfung zur Einzelhandelskauffrau kommen, dann hat sich der Verzicht auf das Baby wenigstens gelohnt. Stress nimmt den Körper in Beschlag. Sie fällt durch. Bei „Glas Natter“ sind sie schockiert. Sie ist eine wirklich gute Verkäuferin. Mit den großen, runden Augen nimmt sie die Kundschaft für sich ein. Sie enttäuscht niemanden. Sie redet gewandt, ihre Argumente sind gut. Jede Verkäuferin im Geschäft, die eine ganze Garnitur am Stück verkauft, bekommt Provision. Daniela Lehmeier gelingt das öfter. Der Chef schreibt ihr ein sehr gutes Arbeitszeugnis. Sie darf weiter im Laden arbeiten, dennoch gilt sie als ungelernt. Ihre Arbeit ist nicht mehr wert als ein Hilfsarbeitergehalt.

„Damals dachte ich noch, jede bestandene Prüfung bringt mich im Leben weiter“, sagt sie. In einem dicken Ordner hat sie alle Unterlagen aus ihrem Erwerbsleben abgeheftet. Das meiste Papier ist vom Arbeitsamt. „Heute denke ich das nicht mehr“, sagt sie. „Viele Leute um mich herum haben erfolgreich studiert. Arbeit haben sie trotzdem keine.“

Als André ein Jahr alt ist, heiratet sie seinen Vater. Das Paar verbringt eine Woche in Italien am Strand, in einer billigen Urlauberhochburg. „Dreck ohne Ende“, das ist Daniela Lehmeiers Erinnerung an ihre Hochzeitsreise. „Ich hab immer nur geputzt, um es dort auszuhalten.“ Italien bleibt ihre erste und letzte Auslandsreise.

Ihr Ehemann ist Gas-Wasser-Installateur, hat eine Anstellung, meldet sich aber oft krank. Zu seiner Frau sagt er, dass er auf Arbeiten keinen Bock hat. Sie lässt sich das gefallen. Erst 1999 wird sie sich von ihm trennen. Sie wird dann erfahren, dass er auch keinen Bock hat, für sein Kind zu zahlen.

Bei „Glas Natter“ verdient sie 900 Mark. Die Töpfe, die sie verkauft, kosten von 50 Mark aufwärts, die Service sind Luxus. Kundinnen, die so was kaufen, wollen vom Chef bedient werden. Sie wissen, dass die Verkäuferin hinterm Tresen ohne Berufsabschluss ist: nicht ihresgleichen. Der Chef sagt: Doch, es bedient Sie die junge Kollegin. Daniela Lehmeier fühlt sich beschützt, aber sie fühlt sich nicht wohl. Gemessen an dem, was sie mittlerweile über das Leben weiß, verkauft sie keinen Hausrat, sondern Statussymbole. Nichts von Nutzen. Nicht selten an Leute, die sich dafür verschulden.

Einmal bezahlt eine Kundin eine Vase für 290 Mark mit Scheckkarte. Am nächsten Tag bringt sie das Stück wieder, weil es ihr nicht gefällt. Sie bekommt Bargeld zurück. Später stellt sich raus, dass die Scheckkarte nicht gedeckt ist. Daniela Lehmeier muss vor Gericht gegen die Frau aussagen. Dann verschwindet bei „Glas Natter“ plötzlich ein Service. Durch den Laden schleicht sich das gemeine Gerücht, die kleine, schlecht bezahlte Verkäuferin habe zugelangt. Wohl oder übel geht der Chef dem Gemunkel nach. Ein halbes Jahr später taucht das Service unter irgendwelchen Kisten wieder auf. Der Chef ruft an und bedauert die Sache. Aber Daniela Lehmeier will nicht mehr in den Laden zurück. Sie glaubt, kein Mensch habe es nötig, sich demütigen zu lassen.

1996 meldet sie sich arbeitslos. Ihr stehen wöchentlich 298,20 Mark zu. Ende des Jahres findet sie eine Arbeit bei der Firma Kurz in der so genannten Hausfrauenschicht. Sie ist die Jüngste unter den Amberger Ehefrauen, die täglich von 14 bis 23 Uhr riesige Lagen Prägefolien auf Maschinen spannen, nach Fehlern absuchen und dann zum Versand aufspulen. Sie verdient knapp 1.600 Mark.

Ab Mitte 1997 steht sie bei Siemens am Fließband. Montiert Schalter, legt Schrauben auf, die maschinell eingedreht werden. Manchmal beginnt die Arbeit schon sehr früh am Morgen, manchmal arbeitet sie bis in den späten Abend. Die Tage sind durchorganisiert, häufig muss der Ehemann den Jungen übernehmen. Er fühlt sich gestresst, trinkt. Eines Tages kommt ein Anruf. Sie soll in die Kita kommen, ihrem Jungen ist etwas passiert. Sie rennt zum Meister, man hat ihr am Telefon nichts Genaues gesagt, sie kann nichts erklären, das will der Meister nicht hinnehmen. Ohne seine Erlaubnis rennt sie fort. In der Kita wartet schon das Jugendamt. André hat einen Biss auf der Wange. Er muss bockig gewesen sein. Da ist sein Vater wohl ausgerastet.

Daniela Lehmeier lässt sich vom Hausarzt krankschreiben und sucht den Firmenpsychologen von Siemens auf. Auch der meint, sie sei momentan nicht in der Lage zu arbeiten. Er weiß, dass sie damit zu den Arbeitskräften gehört, die das Unternehmen schnellstens loswerden will. Er redet mit ihrem Chef und erreicht, dass man sie nicht fristlos kündigt. Sie bekommt Arbeitslosengeld: 309 Mark wöchentlich.

Seitdem schickt sie jedes Jahr einen Bewerbungsbogen zu Siemens. Aus reinem Trotz. Sich zu bewerben hat für sie keinen Sinn. Man kommt nur noch über Zeitarbeitsfirmen ins Unternehmen, man arbeitet für kaum Geld in drei Schichten in einem Siemens-Betriebsteil 80 Kilometer von Amberg entfernt. Für eine alleinstehende Mutter ist das weniger als ein schlechtes Angebot.

1999 reicht sie die Scheidung ein. Die erste Bestandsaufnahme ergibt, dass die unglückselige Ehe, die sie eingegangen ist, ihr lange anhängen wird. Der Kredit über 10.000 Mark, den sie und ihr Mann für Möbel und Hausrat aufgenommen haben, ist längst nicht abgezahlt. Der alte Opel hat 9.900 Mark gekostet. Obwohl sie nicht Auto fahren kann, hat die Ehefrau allein den Kaufvertrag unterschrieben. Auch diese Raten von 99 Mark im Monat sind nicht getilgt. Das Konto der Eheleute ist überzogen. Bei der Wein- und Sektkellerei hat der Gatte eine dicke Rechnung offen. Überall fallen Zinsen an. Die Schulden belaufen sich auf 22.000 Mark.

Daniela Lehmeier bewirbt sich bei Schlecker und Norma, bei Aldi, Real, Netto. Nirgendwo stellt man Leute ein. Die Tage, an denen sie erfährt, dass man sie nicht will, werden immer dunkler. Es gibt helle Momente, deren genaues Datum sie sich gemerkt hat. Zahlen als freundliche Reserve für schlechte Zeiten. Genau am Valentinstag 2000 zum Beispiel stellt sie ein Metzger in der Innenstadt ein. Sie hat keinen freien Tag in der Woche so wie die anderen Verkäuferinnen im Laden – und mit 1.011 Mark verdient sie viel weniger als sie.

Aber es macht ihr Freude. Gutes Fleisch und gute Wurst sind anständige Sachen. Für die Kundschaft jedoch scheint zunehmend gut zu sein, was billig ist. Man kauft nicht mehr frisch, sondern eingeschweißt. Seit sie im Laden angefangen hat, sieht Daniela Lehmeier, wie die Umsätze sinken. Bald schon hat der Metzger keine Arbeit mehr für sie. Sie erscheint morgens zum Einräumen, abends zum Putzen. Im Oktober ist auch dieser Job wieder weg.

Sie gibt nie auf, nicht einmal in Gedanken. Menschen, die aufgeben, müssen sich zusammenreißen. Bei denen sitzt dann auch das Lachen fest. Daniela Lehmeier jedoch fällt immerzu eines aus dem Mund.

Der Chefin von Rewe in der Bayreuther Straße gefällt die Frohnatur, die ihren Supermarkt betritt und nach Arbeit fragt. Sie stellt sie für 30 Stunden pro Woche als Kassiererin ein. Diesmal ist Glück im Spiel. Es wird ein Vollzeitjob daraus. Sie verdient 1.900 Mark – als der Euro kommt, gibt man ihr nur noch 870. Stundenweise vertritt sie die Chefin, das bringt ein gutes Gefühl, aber nicht mehr Geld. Dass ihr auf zwei Jahre befristeter Vertrag nicht verlängert werden kann, sieht sie beizeiten an den Umsätzen.

Das Arbeitslosengeld, das ihr nach dem 80-Stunden-Job bei Rewe zusteht, beläuft sich auf 160,73 Euro wöchentlich. Um etwas dazuzuverdienen, arbeitet sie stundenweise im Spar-Markt an der Eglseer Straße. Die Chefin dort würde eine so gute Verkäuferin wie sie gern immer im Laden haben. Aber der Laden macht nicht genug Umsatz, um noch jemanden einzustellen.

Dafür gibt’s bei Edeka eine freie Stelle. Für 80 Stunden im Monat am Back- und am Metzgerstand zahlt man Daniela Lehmeier 750 Euro. Sie hat 120 Stunden zu tun. Man gibt ihr noch etwas Geld auf die Hand dazu. Nach einem Jahr ist an der Eglseer Straße plötzlich ein Vollzeitjob zu haben: 950 Euro, befristet auf zwei Jahre. Es ist 2003, kurz vorm Scheidungstermin.

Ihr Mann erklärt vor Gericht, er sei selbstständig. Er gibt einen Verdienst an, der nicht ausreicht, um an der Schuldentilgung beteiligt zu werden.

Sie braucht einen Plan. Eine Idee. Sie liest das Bürgerliche Gesetzbuch, das Sozialgesetzbuch, Handelsgesetzbücher, durchforstet Paragrafen. Irgendwie läuft das Leben ab wie ein billiges Nintendo-Spiel: Wenn sie nicht alles selbst herausfindet, gelangt sie nicht ins nächste Level. Sie findet nicht heraus, dass eine Wohnung, in der die Mutter mit dem Kind zurückbleibt, nicht zwangsweise geräumt werden kann.

Es hilft ihr auch niemand oder gibt wenigstens einen guten Rat. Ehe sie sich versieht, steht sie mit André auf der Straße. Was sie nun tun muss, wollte sie ihren Eltern eigentlich ersparen: sich offenbaren. Sie schlüpft mit dem Jungen bei ihnen unter. Sie bittet das Sozialamt um Hilfe zum Lebensunterhalt. Man antwortet: Dafür ist Ihr Vater zuständig, bei dem Sie wohnen. Sie wird bald 30.

Seit sie sich 1999 von ihm getrennt hat, will ihr Mann den Sohn nicht mehr sehen. Das Jugendamt zahlt den Unterhalt. Nach sechs Jahren wird die Zahlung per Gesetz eingestellt. Daniela Lehmeier klagt vor Gericht die 291 Euro für André ein. Der Exmann behauptet, sie hätte ihm den Umgang mit dem Jungen verweigert. Das Kind wird befragt. Es weiß, dass das nicht stimmt, und sagt das auch. 2005 holt der Vater den Sohn viermal ab und bringt ihn nach ein paar Stunden zurück. Geld bringt er keins.

Jeden Monat zahlt Daniela Lehmeier 50 Euro Schulden zurück. Mal an diesen Gläubiger, mal an jenen: Opel-Bank, Wein- und Sektkellerei, Sparkasse, Vermieter. Lässt sie dem einen etwas zukommen, müssen die anderen warten. Es ist beruhigend, etwas zurückzuzahlen, aber es bringt auch nichts. Auf diese Weise tilgt sie nicht mal die Zinsen. Es kommen Mahnungen, Fristen werden überschritten. Neue Schulden entstehen. Sie kündigt alle Versicherungen. Bei Auto-, Rechtsschutz-, Hausrat- und Haftpflichtversicherung stehen aber noch Zahlungen aus. Sie hat jetzt insgesamt 11.900 Euro Schulden. Es melden sich Inkassofirmen, um sie einzutreiben. Sie weiß nicht, dass sie mit diesen Firmen keine Verträge eingehen muss. Sie erkundigt sich auch nicht. Zu dem Leben, das sie jetzt führt, gehört, bei allem Mut, eine gehörige Portion Angst.

2005 geht sie endlich zur Schuldnerberatung. Dort rechnet man auch nochmal durch. Das Ergebnis ist erschütternd. Für den alten Opel, der mal 9.900 Mark wert war, wird sie am Ende 20.000 Euro gezahlt haben. Die Zinsen haben den Preis vervierfacht. Sie meldet private Insolvenz an, bekommt einen Insolvenzverwalter. Der nimmt ihr keine Schulden ab, aber er verhandelt mit den Gläubigern. Er erstellt einen Finanzierungsplan. Die 492 Euro Nachzahlung für Strom und Gas im vergangenen Jahr darf Daniela Lehmeier in Abschlägen begleichen. Sie ist mit den Unsummen, die ihr Leben beherrschen, jetzt nicht mehr allein. Das Fitnessstudio, in dem sie mal einen Monat lang trainiert hat, schickt die Gerichtsvollzieherin. Sie lässt die Frau ein wie eine gute Bekannte. Auf dem hellen Sofa im Wohnzimmer schreiben sie zusammen ins Formular, dass bei Daniela Lehmeier nichts zu holen ist.

Tag für Tag geht sie ihrer Arbeit im Spar-Markt nach. Am Metzgerstand gibt es immer weniger zu tun. Jeder Kunde ist so etwas wie ein freudiges Ereignis. Hin und wieder muss Daniela Lehmeier nachmittags zur Schuldnerberatung. Sie soll ihr privates Haushaltsbuch vorlegen. Es ist genauso trostlos wie der Metzgerstand. Es enthält kaum Eintragungen.

Ende 2005 werden Backstand und Metzgerstand im Spar-Markt geschlossen. „Vor Jahren hatten wir 10.000 bis 15.000 Mark Umsatz am Tag, jetzt waren es noch 100 Euro“, sagt Daniela Lehmeier. An der Bushaltestelle an der Eglseer Straße halten Busse, die direkt zu den Discountern an den Stadtrand fahren. Die Busse bringen die Kunden nicht, sondern schaffen sie weg. Durch den Spar-Markt huschen nur die, die im Billigmarkt was vergessen haben. Bis Ende 2005 geht Daniela Lehmeiers befristeter Vertrag. Wo es keine Kunden gibt, kann der Vertrag für eine Verkäuferin nicht verlängert werden. Ihre Kollegin, die eine feste Stelle hat, arbeitet noch bis 13 Uhr, dann übernimmt die Chefin die Kasse und bleibt dort bis Ladenschluss allein.

Daniela Lehmeier wird 1975 in Amberg geboren. Sie will Verkäuferin werden. Ein Leben lang

Edeka hat alle Spar-Läden in Deutschland aufgekauft. Weil die Filiale an der Eglseer Straße wie viele andere im Land privat geführt wird, darf die Chefin wählen, ob sie sich neue Lieferanten sucht oder zu den Lieferanten von Edeka wechselt. Letzteres würde bedeuten, dass sie sich zu einem vorgegebenen Sortiment verpflichtet, dass sie ein neues Computer- und Kassensystem kauft, obwohl ihres doch funktioniert, und dass sie eine Verkaufslizenz erwirbt, obwohl sie schon eine besitzt.

Daniela Lehmeier hätte den Markt übernehmen können. Sie hätte Ware und Einrichtung kaufen müssen. Sie hätte 80.000 Euro gebraucht. Den Mut hätte sie gehabt. Aber einer Schuldnerin leiht niemand 80.000 Euro.

Sie hat im Monat 660 Euro Arbeitslosengeld. Weil das zum Leben nicht reicht, bekommt sie zusätzlich 380 Euro Arbeitslosengeld II, außerdem 154 Euro Kindergeld. Die kleine Wohnung, in der sie seit Januar 2004 wohnt, kostet 438 Euro Miete. Das Gesetz sagt: Das ist zu viel für zwei Personen. Sie bekommt nur 380 Euro bezahlt. Man droht ihr schon wieder mit Zwangsräumung, denn die ARGE hat zwei Mieten noch nicht überwiesen. Sie rennt los, legt dem Vermieter den Bewilligungsbescheid vor. Sie sagt: „Außerdem dürfen Sie mich nicht rausschmeißen!“ Sie hat jetzt öfter – sie hat endlich – so ein Funkeln in ihren großen Augen.

Daniela Lehmeier ist stark. Fürs Arbeitsamt ist sie eine angenehme Kundin, weil sie sich immerfort um Arbeit bemüht. Auf Elternversammlungen der 6. Klasse der Hauptschule ist sie eine von vier anwesenden Eltern. Die anderen interessieren sich nicht. Die Lehrerin erzählt, was sie mit den Kindern vorhat. Gemeinsam überlegt die kleine Runde, wie man den Problemkindern der Klasse beim Lernen helfen, wer wen für die Hausaufgaben zu sich nach Hause einladen kann.

André kam neulich heulend aus der Schule. Wer anders ist, ist im Abseits. Der kleine Lehmeier trägt nicht die richtigen Klamotten. Die Schulpsychologin spricht mit seinen Klassenkameraden. Sie arbeitet mit Worten. Worte sind Schall und Rauch.

Der Junge würde gern einmal mit seiner Mutter Pizza essen gehen. Sie backt selber eine, das ist billiger. Aber es ist eben nicht: losgehen und von anderen gesehen werden. André will mit der Mutter ins Amberger Spaßbad. Sie spart die 7,50 für ihn, aber sie kann nicht auch noch mit rein. Bald ist der Junge aus dem Alter raus, dann braucht sie ihm den Wunsch, mit seiner Mutter zusammen sein zu wollen, nicht mehr auszuschlagen. Zu Weihnachten hat sie ihm einen Gutschein geschenkt. Für 120 Euro im Monat bekommt er ein Jahr lang Nachhilfeunterricht. Seine Mutter und die Onkels haben zusammengelegt.

Wegen der Schufa-Eintragungen haben Lehmeiers kein Telefon. Im Kühlschrank sind Brot, Wurst, Limonade und Cola. Gekocht wird fast nie. „Zu meiner Schulzeit haben wir nach den Ferien noch Aufsätze geschrieben darüber, was wir erlebt haben“, sagt Daniela Lehmeier. „Das verlangen sie von den Kindern heute nicht mehr. Wahrscheinlich aus Rücksicht. Nicht nur André hätte da nichts Besonderes zu berichten.“

Im November hat sie ein Kind abtreiben lassen. Der Mann, von dem sie es erwartete, wollte es nicht. Sie sagt: „Ich kann nicht noch ein Kind haben, dem ich nichts bieten kann.“ Seit November weint sie viel. Sie hat mit dem Mann Schluss gemacht. Sie steht morgens auf und liest die Gewerbenachrichten der Amberger Zeitung. An jeder Ecke gehen Geschäfte kaputt. Sie wartet darauf, dass ein neuer Laden kommt, bei dem sie sich bewerben kann.

Im Internet hat sie so was wie eine Zukunft entdeckt. Sie ordert Waren übers Netz, betreibt ein Rabattgeschäft mit Avon-Produkten. Man hat sie als Beraterin engagiert, sie absolvierte einen Kosmetikkurs, ist jetzt Gruppenleiterin, soll Bezirksleiterin werden. Sie ist gut. Im Moment bringt das Geschäft nicht mehr als die Benzinkosten ein.

Im leeren Metzgertresen im Spar-Markt hat sie Kosmetik, Schmuck, Schminke, Pflegeprodukte, Wäsche drapiert. Unter diesen Artikeln stecken noch die alten Schilder: Fleischwurst 99 Cent, Sülze 2,22 Euro, Schweinekamm 4,99. Ein Zettel klebt in der Vitrine. Man kann die Frau, die einst hier bedient hat, für eine „Gesichtspflegeparty“ buchen. Auf einem anderen Zettel steht: „Metzgereieinrichtungen zu verkaufen! Vakuummaschine 1.300 Euro, gekühlter Fleischwolf 1.500 Euro, Truhen, Regale.“

Daniela Lehmeiers Traum ist es, ein Kundencenter aufzumachen. Sehr gern hier in der Ecke im Spar-Markt, wenn die Metzgerutensilien endlich verscherbelt sind. Ein Traum schreit nach günstigen Umständen. Wenn sie keine Schulden mehr hätte, dann würde sie nichts kaufen gehen, sagt sie. „Ich würde mich hinlegen und einfach mal ruhig schlafen.“

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