portrait: Ungarns bekennender Lügenbaron
Er wird entweder der Totengräber oder der Erneuerer Ungarns sein“, sagte der Osteuropaexperte Paul Lendvai einmal über Ungarns sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Zwar ist es für eine abschließende Beurteilung noch zu früh. Doch zumindest eine besondere Leistung hat Gyurcsány schon jetzt vollbracht: Mit seiner öffentlich gewordenen Kritik an der eigenen Regierung und dem Eingeständnis, die Nation gnadenlos belogen zu haben, hat der 45-Jährige Anfang dieser Woche die bisher schwersten Unruhen im postkommunistischen Ungarn ausgelöst.
Nach seiner Wiederwahl zum Regierungschef im vergangenen April war der studierte Pädagoge und Wirtschaftswissenschaftler noch hoch gehandelt worden: als Versöhner und Ordnungsstifter sowie als jemand, der die Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt. Mit diesen Vorschusslorbeeren dürfte es nun restlos vorbei sein.
Als Jugendlicher habe er kurzeitig mit dem Gedanken gespielt, Priester zu werden, bekannte Gyurcsány in einem Fernsehinterview während der diesjährigen Wahlkampagne. Stattdessen trat der vierfache Vater, der zum dritten Mal verheiratet ist, dem kommunistischen Jugendverband KISZ bei, wo er es 1989 bis zum Sekretär des Zentralrates brachte.
Nach der politischen Wende im selben Jahr ging Gyurcsány in die Wirtschaft und avancierte als Gründer der Investmentgesellschaft „Altus AG“ in den 90er-Jahren zu einem der reichsten Männer Ungarns.
Derart gut ausgestattet kehrte der „rote Millionär“ 2002 in die Politik zurück und machte eine Blitzkarriere. Vom strategischen Berater des damaligen Ministerpräsidenten Peter Medgyessy über den Posten des Jugend- und Sportministers brauchte er nur zwei Jahre, um nach einer Regierungskrise im Sommer 2004 das Amt des Regierungschefs zu erobern.
Seine Wiederwahl, die erste eines postsozialistischen Regierungschefs in Ungarn, schrieben viele Beobachter Gyurcsány persönlich zu. Doch jetzt könnte die Karriere des Mannes mit der Aura eines Bankangestellten, der für einen Reform- und Modernisierungskurs steht und bisweilen als „Tony Blair des Ostens“ bezeichnet wird, abrupt zu Ende sein.
Derzeit schließt Gyurcsány einen Rücktritt kategorisch aus. „Durchhalten“ heißt die Parole, die dem Hobby-Marathonläufer vertraut ist. Und vielleicht hat Gyurcsány für seine Landsleute noch andere Überraschungen parat. Es wäre nicht das erste Mal. Anfang des Jahres schlüpfte er in einem Videoclip – ein Hochzeitsgeschenk für den Regierungssprecher – in die Rolle von Hugh Grant. Der jetzige Film dürfte ihm weniger gefallen. BARBARA OERTEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen