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Eine Minute Amateurfilm

KINO ÖSTERREICH Auf dem Filmfest Diagonale in Graz glänzten diesmal neue Dokumentarfilme und ungewöhnliche Schätze aus dem österreichischen Filmmuseum

VON SVEN VON REDEN

1956 erklomm Erich Lessing in Ungarn zusammen mit einem russischen Kollegen einen Panzer und fotografierte die Unruhen auf den Straßen. Als die Bilder der beiden Pressefotografen veröffentlicht wurden, hatten sie völlig andere Aussagen. Nicht weil sie etwas Unterschiedliches gezeigt hätten, sondern weil die Redaktionen in den Heimatländern genau gegensätzliche Bildunterschriften unter die Fotos setzten. Was für die österreichischen Medien die brutale Niederschlagung eines demokratischen Aufstands durch die Truppen einer fremden Macht zeigte, war für die sowjetischen Medien die legitime Bekämpfung eines faschistischen Umsturzversuchs.

Lessing erzählt diese im Angesicht der Krimkrise erschreckend aktuelle Geschichte einem Journalisten im Dokumentarfilm „Der Fotograf vor der Kamera“. Tizza Covi und Rainer Frimmel begleiten darin den rastlosen neunzigjährigen Fotografen im Vorfeld einer Ausstellung in Wien, zeigen ihn bei Diskussionen mit seinem Verleger und während der Arbeit hinter der Kamera.

Was die Möglichkeiten der Reportage-Fotografie angeht, ist Lessing skeptisch. Selten gelingt es seiner Ansicht nach, dass ein Foto nicht nur ästhetisch gelungen ist, sondern ganz ohne Unterstützung durch Worte eine Geschichte erzählt. Vielleicht auch deshalb fotografiert er heute hauptsächlich Gemälde in Museen.

„Der Fotograf vor der Kamera“ war einer der vielen sehenswerten Dokumentarfilme der diesjährigen Diagonale, des Grazer Festivals des österreichischen Films. Der österreichische Spielfilm hat durch Festivalerfolge von Regisseuren wie Michael Haneke und Ulrich Seidl in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen und das Land ist traditionell eine Großmacht, wenn es um die filmische Avantgarde geht. Dieses Jahr zeigte sich, dass im Dokumentarfilm aktuell die besten Produktionen entstehen.

Zu den Höhepunkten zählten Ivette Löckers Porträt eines russischen Junkie-Paares „Wenn es blendet, öffne die Augen“, Joerg Burgers bildgewaltiges Essay über die Grenzen des menschlichen Wissens „Focus on Infinity“ und Johannes Holzhausens ebenso liebevolles wie komisches Institutionenporträt des Kunsthistorischen Museums Wien, „Das große Museum“. Mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde am Ende Ruth Beckermanns fragmentarische Spurensuche entlang der Themen Reise, Flucht und Exil „Those Who Go Those Who Stay“.

Wer allerdings umfassender etwas über Österreich erfahren wollte, für den bot das Festival unter dem Titel „Ein anderes Land – Fünf österreichische Filmgeschichten“ ein in seiner Formenvielfalt und Komplexität schier umwerfendes Sonderprogramm. Anlass war der fünfzigste Geburtstag des Österreichischen Filmmuseums. Ausgewählt wurden ausschließlich Werke aus dessen Sammlung, die zwar nicht national begrenzt ist, aber dennoch eine Fülle filmischer Zeugnisse aus und über das Land beherbergt.

Bizarres Fundstück

Dass Kino in der Definition des Filmmuseums weit mehr ist als der abendfüllende Spielfilm, zeigte sich in allen fünf Programmen: ob Werbung, Wochenschaubeitrag, Experimentalfilm, Dokumentation oder Fragment, alles fand im insgesamt 33 Filme umfassenden Programm Platz. Darunter solch bizarre Fundstücke wie der Imagefilm „Unser Wien“ aus den frühen sechziger Jahren, der die Vorzüge der modernen bzw. sich modernisierenden Metropole anpreist mit Hilfe einer absurden Rahmenhandlung, in der ein Magier in einem Flugzeug den Passagieren die Zukunft vorhersagt. Ein Auftragswerk der damaligen SPÖ-Regierung mit Stars wie Peter Weck und Johanna Matz, in der Stadtautobahnen und Plattenbausiedlungen als Mittel gegen Verkehrsinfarkt und Wohnungsnot gepriesen werden. Optimistisch blickt man nach vorne – und blendet die nähere Vergangenheit komplett aus.

Neben der Aufbruchsphase in die Moderne zwischen 1957 und 1967 widmete „Ein anderes Land“ im Kontrast dazu auch der Nazizeit Österreichs ein ganzes Programm – zwei Epochen, die tatsächlich ein „anderes Land“ zeigen, das wenig zu tun hat mit touristisch vermarktbaren K.-u.-k-Monarchie-Fantasien und anderen nostalgischen Projektionen.

Verstörend schön präsentierte sich etwa ein einminütiges immer noch kräftig leuchtendes Stück Farbfilm, das der Arzt und Amateurfilmer Lafayette P. Monson im Sommer 1938 aufgenommen hat. Es dokumentiert die antisemitischen Schmierereien auf den Fenstern Wiener Geschäfte kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland. Das Material entwickelt seine Wirkung gerade dadurch, dass es, anders als in den täglich im Fernsehen präsentierten Dritte-Reich-Dokumentationen, ganz unbearbeitet und ohne jegliche erklärende Umklammerung präsentiert wurde.

Damit widersprach „Ein anderes Land“ auch indirekt der Skepsis eines Erich Lessing: Selbst die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung scheinbar ephemersten Bilder erzählen ihre Geschichten, wenn man sie einfach nur wirken lässt.

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