: Die Halde wächst
Das Festival Steirischer Herbst in Graz erforscht mit Performances, Kunst und Theater, wie soziale und geografische Grenzen gezogen werden
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Am Anfang häuft sich der Müll, wenig später schon häuft sich der Sinn und dockt an die Abfälle an. Zur Eröffnung des Steirischen Herbstes in Graz zerfiel eine Welt in Einzelteile: In der Performance „Schwerefeld mit Luftabdrücken“ ließ der österreichische Komponist Georg Nussbaumer Dinge von der Decke regnen und in Bergen aus Sand aufschlagen. Kartoffeln, Orangen, Gebisse, präparierte Vögel, ein Fleischwolf, Bücher, Zangen, Steine und Fische wurden fast eine Stunde lang von Spielern, die hoch unter der Decke der Helmut-List-Halle auf kleinen Plattformen festgegurtet waren, in komponierten Abständen nach unten geworfen. Man dachte an Steinschlag und Berge zunächst, an Explosionen und Fall-out dann, an das eigene Sammeln und die Probleme der Entsorgung schließlich, während man sich immer mehr von den wachsenden Halden der Konzertrückstände eingekeilt sah.
Das Bild der Halde tauchte am nächsten Tag wieder auf und reicherte sich an mit emphatischer Bedeutung in einer der vielen Ausstellungen, die zusammen mit Konzerten, Theater und Performances das Festival Steirischer Herbst bilden. Die Neue Galerie des Landesmuseums zeigt die Ausstellung „Slum“ mit Bildern von Menschen, die aus den Abfallcontainer der großen Supermärkte leben (von El Perro Santiago Diaz aus Madrid) oder in aufgegebenen Stadtvierteln von Johannesburg (von Guy Tillim). Die Ausstellung, die Peter Weibel kuratiert hat, ist eindeutig in ihrer sozialen Botschaft. Die beiden Philosophen Giorgio Agamben und Slavoj Žižek sind die Gewährsmänner. Keine andere gesellschaftliche Gruppe wachse so schnell wie die, die in Slums leben, wird Žižek zitiert.
Wie Kontrolle ausgeübt wird, wie Räume definiert werden und neue soziale und geografische Grenzen gezogen werden: Das ist der Stoff, der die Künstler des Steirischen Herbstes beschäftigt. Die Beiträge kommen von überall: Im Forum Stadtpark läuft ein kleines, aber eindringliches Video von „artist without walls“, einer Gruppe israelischer und palästinensischer Künstler, die zwei Jungens mit Tennisschläger zeigen. Die Mauer, über die hinweg sie den Ball spielen, ist die neu gebaute Grenze zwischen Israel und Palästina. Kontrolle, Kollaboration und Teilhabe, das waren drei der lose verbundenen Stichworte, die Veronica Kaup-Hasler, die dieses Jahr zum ersten Mal Intendantin des Steirischen Herbstes ist, anstelle eines Mottos ausgegeben hat. Diese Begriffe funktionieren gut, um Verbindungen zwischen den einzelnen Formaten des Festivals herzustellen – inhaltlich, ästhetisch und in der Theorie.
Eine Steilvorlage, die Kunst auch immer wieder ins Politische zu wenden, erhält das Festival durch den Wahlkampf in Österreich. Die rechtspopulistische FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs), die mit den Grünen um den dritten Platz kämpft, hat der Stadt Graz (und nicht nur der) viele fremdenfeindliche Sprüche auf Wahlplakaten hingestellt wie „Lieber Daham als Islam“. Beim ersten Akt der Campshow Steiermark, die kleine Performance-Trupps in Campingwagen als Botschafter des Festivals ins Umland schickt, saß ein großes schwarzes Huhn im Baum und variierte solche Sprüche mit Inbrunst: „Lieber steirische Mösen als Achse des Bösen“. Dem Huhn gefiel, was die Künstler vorhatten, gar nicht. Da soll zum Beispiel der alte Roman „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck, der vom Treck verarmter Landarbeiter im Amerika der Depression erzählt, als Fotoroman nachgestellt werden, mit Steiermärkern und osteuropäischen Erntehelfern. Kurios mutet auch die Mission von Vaginal Davis an, einem schwarzen Transvestiten aus Los Angeles, und deren turbantragenden Gehilfen: Ihr Ton ist der von Predigern, besuchen wollen sie die Feuerwehrmänner überall auf den Dörfern und deren Männlichkeit und Tapferkeit huldigen. So wirbelt Vaginal Davis mit nur drei Sätzen durcheinander, was Rechte ebenso wie Islamisten ständig feindlichen Lagern zusprechen wollen.
„traurig sicher, im Training“ ist die Ausstellung im Grazer Kunstverein überschrieben, die dem Gedanken der Festungsarchitektur folgt. Graz war einmal eine Stadt, deren Mauern in der Abwehr der Türken eine Rolle spielten. Heute ist sie sich ihrer Nähe zu Süd- und Osteuropa bewusst. Nun ist es im Grazer Kunstverein nur ein kleiner Schritt von alten Stichen der Stadt zu Modellen neuer Bastionen. Die Künstlergruppe „an architektur“ hat zum Beispiel die Umrisse eines bayrischen Landkreises als hohe Wand ausgeführt, weil das Aufenthaltsrecht von Flüchtlingen in diesem Landkreis daran gebunden ist, diese Grenze nicht zu überschreiten.
In der Galerie von Camera Austria geht es mehr um die Verinnerlichung von Kontrollinstanzen und das Zurückspiegeln von medialen Repräsentationsformen. Die Ausstellung „knowing me, knowing you“ lotet in Fotografien, Zeichnungen und Videos aus, wie sich ein voyeuristischer Blick, der aus den Medien kommt, in die Selbststilisierung der Individuen eingeschrieben hat und Privatheit zu einer Inszenierung für Zuschauer geworden ist. Die Fotosequenzen der österreichischen Gruppe G.R.A.M. oder des Schweizers Marco Poloni stoßen Filme im Kopf an, die ihre Spannung aus der Heimlichkeit der Beobachtung beziehen. Die Bilder sind überaus sinnlich, weil man sich perfekt im Körper des Beobachters einnisten kann. Mit politischen Symbolen und Piktogrammen, die aus der Geschichte der Aufklärung und Emanzipation stammen, arbeitet Thomas Feuerstein – die Inhalte aber verkehren sich: Aus Zeichen des Fortschritts und der Wissensaneignung werden Zeichen der Normierung und Steuerung. Einmal ist es ein Schwarm von Fliegen, die er wie Pixel über einen Bildschirm steuert, bis sie das Porträt eines Biologen bilden. Man schaut und ist fasziniert. Als Chiffre der Zukunft aber ist das kaum tröstlicher als die Bilder der Menschen, die vom Müll leben.
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