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Bremer Nachholbedarf beim Wahlrecht

Wahlkreise statt Landeslisten sollen nicht gehen in Bremen? Die gab es doch 1946 schon, erinnert der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst. Seine These: Mehr Demokratie ist verfassungsrechtlich möglich. Ein Beitrag zur Bremer Wahlrechts-Diskussion

Von Lothar Probst

Stellen wir uns einmal vor: In Bremen würden 80 Abgeordnete nach einem modifizierten Verhältniswahlrecht in 16 Wahlbezirken gewählt, davon 64 Abgeordnete direkt mit relativer Mehrheit und 16 nach Stimmenanteilen der sich bewerbenden Parteien über eine Liste mit fester Reihenfolge der Kandidaten. Rechtlich und politisch unmöglich würden Abgeordnete der Großen Koalition sagen, die im vergangenen Jahr im Wahlrechtsnovellierungsausschuss der Bürgerschaft eine Reform des Bremer Wahlrechts lautlos beerdigt haben. Die Antwort ist falsch und richtig zugleich. Falsch, weil genau nach diesem Modus 1946 die erste freie Bürgerschaftswahl nach dem Zweiten Weltkrieg im Stadtgebiet Bremen durchgeführt wurde, richtig, weil damals die Rekonstituierung des Bundeslandes Bremen und die Ausarbeitung einer Landesverfassung noch nicht abgeschlossen waren.

Das Beispiel zeigt auf jeden Fall, dass die Grundsätze eines Wahlrechts und die Regeln eines Wahlsystems den jeweiligen historischen Begebenheiten sowie politischen Bedingungen und Opportunitäten unterliegen. Änderungen des Wahlrechts sind jederzeit möglich und folgen häufig dem gesellschaftlichen und politischen Wandel der Zeiten. Davon zeugt auch die Geschichte der Bundesrepublik. An dem seit 1956 geltenden Bundeswahlgesetz wurden ca. 80 Modifikationen vorgenommen. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 hatte jeder Wähler nur eine Stimme, die für die Partei und den Wahlkreiskandidaten zählte. Die 5-Prozent-Klausel galt bei dieser Wahl nur in den einzelnen Bundesländern und wurde erst danach auf das ganze Wahlgebiet ausgedehnt. Das Zweitstimmensystem wurde 1953 eingeführt. 1966 stand die Einführung des Mehrheitswahlrechts auf der Tagesordnung der Großen Koalition, wurde dann aber wieder verworfen. Weitere Veränderungen waren die Einführung der Briefwahl und die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre.

In der Wahlrechtsforschung werden heute – 60 Jahre nach Einführung der Demokratie – andere Ansprüche an ein modernes Wahlrecht und Wahlsystem formuliert als in den Gründerzeiten. Grundsätzlich sollte ein Wahlsystem folgende Funktionen erfüllen:

+ Repräsentationsfunktion (alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen sollen in den gewählten Parlamenten vertreten sein und die Stimmen sollen proportional in Abgeordnetenmandate umgewandelt werden),

+ Konzentrationsfunktion (das Wahlsystem soll die Zahl der Parteien im Parlament begrenzen, die Regierungsbildung befördern und für politische Stabilität sorgen)

+ Partizipationsfunktion (die Wähler sollen größtmögliche Beteiligungschancen haben und neben der Parteienwahl auch eine personelle Wahl treffen können)

+ Legitimitätsfunktion (das Wahlsystem soll allgemein akzeptiert und als gerecht empfunden werden)

+ Transparenzfunktion (die Funktionsweise des Wahlsystems soll einfach und transparent sein).

Die optimale Verwirklichung aller Leistungsanforderungen innerhalb eines Wahlsystems gleicht in der Regel der Quadratur des Kreises, weil ein Wahlsystem – je nach Ausgestaltung – entweder die eine oder die andere Funktion stärker fördert. So stehen sich der Wunsch nach einer Konzentration des Parteiensystems auf der einen Seite und der Anspruch auf Erfüllung der Repräsentationsfunktion auf der anderen Seite häufig im Wege. Einigkeit besteht aber darin, dass aufgrund gewachsener Partizipationsbedürfnisse in der Gesellschaft der Partizipationsfunktion mehr Beachtung geschenkt werden sollte.

Beurteilt man unter diesem Gesichtspunkt das bestehende Bremer Wahlrecht und Wahlsystem, treten die Defizite ziemlich klar hervor. Es ist mit seinem einfachen Verhältniswahlrecht, welches jedem Wähler nur die Stimmabgabe für die Liste einer Partei oder Wählervereinigung ermöglicht, in seinen Grundzügen in den letzten 50 Jahren kaum verändert worden und weist vor allem im Hinblick auf die Partizipationsfunktion erhebliche Schwächen auf, da es dem Wähler keine Möglichkeit zur personellen Auswahl bietet. Ein Vergleich mit dem Wahlrecht anderer Bundesländer zeigt, dass Bremen Nachholbedarf hat. In den meisten Bundesländern ist längst eine personalisierte Komponente in das Wahlsystem eingeführt worden.

Ob eine Reform des Bremer Wahlrechts im Sinne der Vorschläge der Initiative „Mehr Demokratie“ einen signifikanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung hätte, muss eher bezweifelt werden. Dass eine solche Reform den Wünschen vieler Wahlbürger entgegenkommt, kann dagegen nicht bezweifelt werden und wird u. a. durch eine Umfrage unter Bremer Wahlberechtigten im letzten Jahr unterstützt. Eine Reform des Bremer Wahlrechts sollte vor diesem Hintergrund in erster Linie im Hinblick auf die Qualität des Wahlsystems diskutiert werden. Eine Reform, die den Bürgern mehr Auswahlmöglichkeiten anbietet als bisher, verbessert die Qualität von der Angebotsseite her. Dagegen sollte niemand etwas einzuwenden haben.

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