RALPH BOLLMANN MACHT: Sehnsucht nach dem Tolpatsch
Vor einem Jahr schickte die CDU Günther Oettinger nach Brüssel und installierte in Stuttgart Stefan Mappus. Geklappt hat die Machtübergabe nicht – wie viele andere auch nicht
Am Sonntag ist es genau ein Jahr her. Es war im Herbst der schwarz-gelben Regierungsbildung, als Angela Merkel den Schwaben Günther Oettinger zum neuen deutschen EU-Kommissar machte. Tags zuvor hatte der damalige Sprecher der Bundes-CDU noch sehr geheimnisvoll getan. „Sie werden alle überrascht sein“, sagte er nur.
Diese Prognose wenigstens erwies sich als zutreffend. Überrascht war ich wirklich, sehr sogar. Nicht mit Blick auf Oettinger. Dass der Mann nach ungeschickten Auftritten als irreversibel beschädigt galt, war mir nicht entgangen. Auch erschien es plausibel, dass er in Brüssel eine bessere Figur machen könnte, auf den Umgang mit den Medien oder mit deutscher Geschichte kommt es dort weniger an.
Rätselhaft erschien mir das Kalkül mit Blick auf Baden-Württemberg. Es war klar, dass für die Nachfolge nur einer in Frage kam, der damalige Fraktionschef Stefan Mappus. Warum wollte Merkel ihn als Ministerpräsidenten? Um zu zeigen, dass sie auch Konservativen Gutes tut? Oder trieb sie das verwegene Kalkül, die Gestrigen sollten sich einmal mehr selbst demontieren?
Eine Rolle spielte wohl das Dogma der geregelten Machtübergabe. Ich musste an Peer Steinbrück denken, den Wolfgang Clement in Nordrhein-Westfalen als Nachfolger einsetzte. An Sigmar Gabriel, dem Gerhard Schröder die Staatskanzlei in Niedersachsen überließ. An Dieter Althaus, dem Bernhard Vogel den Thron in Thüringen vererbte. Kein Politiker, der so leicht auf einen Spitzenposten kam, konnte sich dort halten. Mit Ausnahme von Matthias Platzeck in Brandenburg.
Über die Ursachen wurde viel philosophiert. Daran, dass Demokratie eine geregelte Machtübergabe nicht kennt, dachte seltsamerweise niemand. Im Idealfall führen allgemeine Wahlen einen Spitzenwechsel herbei. Ersatzweise taugt eine Auseinandersetzung innerhalb der eigenen Partei. Um die Ablösung von Edmund Stoiber oder Kurt Biedenkopf gab es in der Union viel Streit – die Macht in Bayern oder Sachsen hat sie nicht verloren.
Deshalb irritieren die Rücktritte von Roland Koch und Ole von Beust: weil sie ihren Wählern ohne triftiges Argument neues Personal vorsetzen. Leute, die sie nie gewählt haben und vielleicht auch niemals wählen würden. Leute wie Volker Bouffier oder Christoph Ahlhaus.
Auch Mappus muss jetzt die Erfahrung machen, dass Regieren nicht so einfach ist, wie es ihm auf der bequemen Fraktionsbank beim Anblick des vermeintlichen Tolpatschs Oettinger schien. Ob das strittige Bahnhofsprojekt in Stuttgart nun richtig ist oder falsch, ist dabei nicht die Frage. Der Glaube beider Seiten, Gutachten über die Beschaffenheit des Bodens könnten politische Entscheidungen ersetzen, ist so unpolitisch wie der Glaube an die geregelte Machtübergabe.
Aufgehellt hat sich in Stuttgart derweil nur die Erinnerung an das Walten des neuen Brüsseler Kommissars. Was wiederum keine echte Überraschung ist.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz. Zurzeit arbeitet er als „Journalist in Residence“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Foto: M. Urbach
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