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normalzeitHELMUT HÖGE über Armenier hier und jetzt

„Überall ist der Tod das Gleiche /Jeder stirbt nur einmal“ (aus der Nationalhymne)

„Wie eigenartig doch unsere Republik ist. Ägypten und doch nicht Ägypten – Holland und doch nicht Holland“, so beschreibt Marietta Schaginjan Armenien. Das Land wurde mit Auflösung der Sowjetunion 1991 selbstständig. Zunächst brach jedoch die Wirtschaft zusammen – es gab zeitweise keinen Strom, kein Gas und kaum Wasser. Ein Erdbeben erzwang die Stilllegung des armenischen Atomkraftwerks, und der Konflikt mit Aserbaidschan um die armenisch besiedelte Region Berg-Karabach eskalierte – bis die Rote Armee dort einmarschierte.

Nun hat sich die Situation im Land zwar wieder einigermaßen stabilisiert, aber noch immer wandern viele Armenier aus, im Land selbst leben nur noch etwas über 2 Millionen. Dafür sind Moskau, Marseille und Los Angeles zu Zentren armenischen Lebens geworden. Einer der letzten Radio-Eriwan-Witze lautet: „Wann wird es besser?“ Antwort: „Besser war schon!“

Nicht wenige Armenier leben inzwischen in Berlin – darunter einige berühmte Schachspieler und Schauspieler sowie Boxer und Künstler. Ihre „Szene“ scheint sich in Charlottenburg zu konzentrieren. Hier gibt es nicht nur zwei apostolisch-armenische Gemeinden, sondern auch drei armenische Restaurants. Eins, das Ristorante Lucia in der Knesebeckstraße 70, gehört seit April Karine Wisbar. Die studierte Elektroingenieurin lernte vor 30 Jahren in Eriwan einen Deutschen kennen und zog mit ihm nach Ostberlin, wo sie im „Internationalen Buch“ arbeitete. Nach der Wende arbeitete Wisbar zunächst in einem Buchladen im Haus der Russischen Kultur, daneben organisierte sie Veranstaltungen für russische, ukrainische und armenische Künstler und arbeitete in der Frauengruppe S.U.S.I. mit, die ausländischen Frauen in Not hilft.

Auch in ihrem neuen Lokal finden regelmäßig Lesungen und Ausstellungen statt. Zuletzt hingen dort Bilder der deutschen Malerin Sabine Grosse, und es las der Leningrader Liedermacher und Schriftsteller Alexandr Kopanev Teile aus seinem neuen Roman „Vagabund – ein nichtsnutziger Mann verdammt zur Einzigartigkeit“ vor. Sein Buch hatte Lucinka Wichmann, die Wirtin des inzwischen geschlossenen russischen „Cafés Hegel“ am Savignyplatz, übersetzt.

Im Ristorante Lucia bietet Karine Wisbar zusammen mit ihrer armenischen Köchin Lilik eine „kaukasisch-sowjetische Küche“ an – dazu einige italienische Spezialitäten. Zu ihren armenischen Gerichten gehören „Dolma“ (mit Fleisch und Reis gefüllte Weinblätter), „Spas“ (eine Joghurtsuppe), „Basturma“ (hartgeräuchertes Fleisch), „Chorowatz“ (Fleischspieße), Lulla Kebab (gekochtes Lamm). Zwischendurch trinkt man einen armenischen Kognak, den man zu den Hauptexportartikeln des Landes zählen muss.

Ein weiterer ist neben einer Menge Erdölexperten und dem Sänger Charles Aznavour der Regisseur Atom Egoyan, dessen letzter Film, „Ararat“, 2004 auf der Berlinale Premiere hatte. Er handelt vom Bürgerkrieg zwischen Armeniern und Türken 1915, bei dem 1,5 Millionen Armenier starben. Dieser „Völkermord“ ist immer noch sehr präsent im armenischen Kollektivbewusstsein, umso mehr, als die Türkei bis heute bestreitet, dass es ihn überhaupt gab. Während der Zeit der Stalin’schen Säuberungen wurden etwa 10.000 Armenier umgebracht beziehungsweise deportiert und mindestens noch einmal so viele wenig später im Zweiten Weltkrieg, als eine „Armenische Legion“ auf deutscher Seite kämpfte. Beim Erdbeben 1988 starben rund 25.000 Menschen, und im Konflikt um Berg-Karabach 18.000 Menschen, 300.000 Armenier flüchteten aus der Region; sie leben zum Teil noch immer in Notunterkünften.

Wegen der zunehmend restriktiveren Visaerteilung kommen heute nur noch sehr wenige Armenier nach Deutschland, umgekehrt fahren jedoch die meisten, die hier leben, so sie es sich leisten können, mindestens einmal im Jahr für einige Zeit „nach Hause“. Das gilt auch für Karine Wisbar.

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