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Das bisschen Gänsehautfeeling

ABSCHLUSSKONZERT In der vollen Columbiahalle beenden Tocotronic die Tour zu ihrem Hit-Album „Schall und Wahn“. Viele Fans singen die Refrains auswendig mit, wobei die alten Hits immer noch besser ankommen

Tocotronic’sche Ironie tut manchmal weh, aber nur dann ist sie auch richtig gut

VON DORIS AKRAP

Wenn das Publikum auf einem Konzert in Deutschland mitsingt, stehen auf der Bühne meist Schlagerstars wie Achim Mentzel oder Herbert Grönemeyer. Doch am Freitagabend spielte die Band Tocotronic, die als Diskursrock der Hamburger Schule gelabelt werden. Und das Konzert fand nicht in einem kleinen Szeneschuppen wie dem Leipziger Eiskeller statt, sondern in der vollen Columbiahalle. Dorthin war der Event wegen großer Nachfrage verlegt worden und das Publikum war trotzdem textsicher.

Schlager am Schluss

Sänger Dirk von Lowtzow begrüßte es mit den Worten „Hallo Berlin“. Zunächst mal konnte man sich also schon an Peter Handkes Diktum erinnert fühlen, dass wir am Schluss immer bei den Schlagertexten landen. Es ist das Abschlusskonzert der Tour, auf dem Tocotronic ihr neues Album „Schall und Wahn“ vorstellen, ihrem ersten, das es auf Platz eins der deutschen Albumcharts geschafft hat. So beginnt das Konzert auch mit zwei Stücken der neuen Platte.

Zwei Mädels kommentieren, dass „Deine Liebe tötet mich“ nur für sie gespielt würde: „Das ist unser Lied.“ Die Stimmung bleibt aber verhalten, fast wollte man sich ein Stühlchen besorgen, um den Texten entspannter zuzuhören. Doch dann passiert etwas. Alle kreischen und reißen die Arme hoch und auf einmal ist man mitten in einem Rockkonzert. Ein bisschen Gänsehaut-Feeling kommt auf, als die ganze Halle dem Sänger auf die Zeile „Aber hier leben“ mit „Nein Danke!“ antwortet. Am Vorabend des 8. Mai 2005, dem Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands hatten Tocotronic auf der Veranstaltung „Deutschland, du Opfer“ gespielt und einige Wochen später auf einem Jugend-Festival der Bundesregierung. Unbeschadet übersteht so was niemand, aber auf Konzerten wie diesen weiß man wieder, was diese Band so großartig macht. Denn trotz des kommerziellen Erfolgs scheinen die Fans von Tocotronic zu wissen, warum sie lauter als der Sänger selbst grölen: „Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt“.

Es sind eben nicht nur die Stücke mit den einfachen Wahrheiten von den letzten Platten, die alle kennen. Es sind auch Lieder wie „Drüben auf dem Hügel“ oder „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ vom Debütalbum „Digital ist besser“, dessen Texte das Publikum, das durchschnittlich eher jünger ist als die Band, komplett auswendig singt.

Die schönste Performance an diesem Abend legt dann Schlagzeuger Arne Zank hin, der „Bitte gebt mir meinen Verstand zurück“ singt. Er schüttelt seinen Kopf und seinen Körper zu dem Song von dem 1996er-Album „Wir kommen, um uns zu beschweren“.

Nachhilfe für Schwaben

Fast unweigerlich denkt man dabei an die Beschwerdeführer von Stuttgart 21 und wünscht, die Schwaben mögen sich die Lieder von Tocotronic mal richtig anhören. Doch nach Stuttgart kommen Tocotronic erst mal nicht mehr. Sie machen jetzt ein Jahr Pause, keine Platte, keinen Auftritt.

Einem Punkerpärchen hat das Konzert in der Columbiahalle nicht gefallen. Er: „Dit war nüscht. Lieder einfach runterjespielt und keen Kontakt zum Publikum.“ „Ja“, versucht sie zu beschwichtigen „war aber letztes Mal anders, weeste noch?“ Nicht jedes Publikum mag es eben, wenn man die ganze Zeit nur mit „Berlin“ angesprochen wird, was Dirk von Lowtzow die ganze Zeit wiederholte. Aber so ist das mit der Ironie, die tut manchmal weh und nur dann ist sie auch richtig gut. Tocotronic darf man es aber immer noch getrost abnehmen, wenn sie singen „Im Zweifel für den Zweifel“, die vorletzte Zugabe an diesem Abend, der mit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ endet.

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