: Der Tag der Ungehorsamen
PROTESTE Während der Castorzug mit Stunden Verspätung ins Wendland rollt, gibt es in der Region die größten Proteste aller Zeiten – Tausende besetzen Schienen und Straßen. Die Polizei geht hart gegen „Schotterer“ vor
MISCHA ADOMEIT
AUS DEM WENDLAND MALTE KREUTZFELDT
Trotz eines massiven Polizeiaufgebots ist es im Wendland am Wochenende zu massenhaften Besetzungen der Castortransportstrecke gekommen. Rund 4.000 Menschen beteiligten sich am Sonntag an mehreren Stellen am Versuch, Schotter aus dem Gleisbett zu entfernen, um die Bahnstrecke unpassierbar zu machen. Am frühen Nachmittag erreichten 200 von ihnen das Ziel: Auf einer Strecke von 150 Metern wurden in der Nähe vom Bahnhof die Schienen teilweise unterhöhlt. Erst nach einer Weile drängte sie die Polizei unter Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken vom Bahndamm. Ein Polizeisprecher ging am Sonntagabend davon aus, dass der Zug die Stelle trotzdem gefahrlos passieren könne.
Am Morgen hatten die Beamten die Versuche, die Bahnstrecke zu beschädigen, zunächst verhindert. Die Demonstranten, die in mehreren Gruppen von zwei Camps zur Bahnstrecke aufgebrochen waren, waren entweder gewaltsam am Betreten der Gleise gehindert oder nach kurzer Zeit wieder von den Gleisen vertrieben worden. Dabei ging die Polizei mit großer Härte vor, setzte Schlagstöcke ein und versprühte Pfefferspray aus kurzer Distanz. Teilnehmer berichteten, dass auch Tränengasgranaten in den Wald geschossen wurden, um die Demonstranten zu vertreiben. Dies bestritt die Polizei. Den Einsatz eines Wasserwerfers räumte ein Polizeisprecher ein; dieser habe aber nicht mit voller Kraft gesprüht: „Es ging eher darum, die Demonstranten nass zu machen, damit sie frieren und nach Hause gehen.“
Ein Sprecher der Initiative „Castor? Schottern!“ übte scharfe Kritik an dem Einsatz. Mehrere Teilnehmer seien verletzt worden. „Die Polizei drischt mit ihren Schlagstöcken noch auf am Boden Liegende ein“, sagte Mischa Adomeit. Die Organisatoren betonten, dass sich die Teilnehmer an den Aktionskonsens hielten und keine Gewalt gegen Polizisten ausübten. Ein Polizeisprecher sagte hingegen, Beamte seien „in Einzelfällen“ mit Feuerwerkskörpern und Stöcken beworfen worden. Zudem sei ein Räumpanzer mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet worden, er blieb aber funktionstüchtig. Ein Verdächtiger wurde festgenommen. Über weitere Festnahmen gab es zunächst keine Angaben.
An anderen Stellen, wo keine Beschädigungen angekündigt waren, duldete die Polizei zunächst größere Sitzblockaden: Nahe der Stadt Hitzacker bei Harlingen gelang es rund 2.500 Menschen, die Gleise zu besetzen. Die Polizei rückte mit Reiterstaffeln an. Ein Demonstrant wurde mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, nachdem er durch ein Pferd verletzt wurde – die Polizei sprach von einem Unfall. Sie kündigte an, die Blockade „gesittet“ zu räumen. Bei Redaktionsschluss hatte die Räumung noch nicht begonnen. Die Blockierer richteten sich auf eine lange Nacht ein.
Der Zug mit den Castorbehältern hatte nach mehreren Blockadeaktionen in Frankreich und Deutschland am Nachmittag bereits zehn Stunden Verspätung. Kurz vor 18 Uhr verließ er Lüneburg und bog auf die blockierte Bahnstrecke nach Dannenberg ein. Dort werden die elf Behälter mit Atommüll auf Tieflader umgeladen und auf der Straße ins 22 Kilometer entfernte Zwischenlager in Gorleben gebracht. Auch diese Strecke war am Sonntag unpassierbar: Auf der Straße vor dem Zwischenlager hatten sich 1.200 Menschen zu einer Sitzblockade niedergelassen. Ausgerüstet mit Strohsäcken, Planen und einer mobilen Küche wollten sie dort bis zum Eintreffen des Castortransports ausharren. „Wir nehmen die rückwärtsgewandte Atompolitik der Bundesregierung nicht länger hin“, sagt Luise Neumann-Cosel von der Organisation X-tausendmal quer, die die Blockade organisiert. „Wir lassen uns auch von eventuellen rechtlichen Folgen nicht abschrecken.“ Die Polizei ging zunächst nicht gegen die Sitzblockade vor.
Doch nicht nur die Blockaden stießen auf große Beteiligung, die Demonstration am Samstag war die größte, die es jemals in Deutschland gegen einen Atomtransport gegeben hat. Weil es in der Stadt Dannenberg keinen Platz gibt, der genug Menschen fasst, mussten die Atomkraftgegner auf ein Maisfeld ausweichen. Die Polizei sprach von 25.000 Teilnehmern, die Veranstalter zählten 40.000 auf dem Feld und schätzen, dass weitere 10.000 es wegen massiver Verkehrsprobleme nicht bis zur Kundgebung geschafft hatten.
Mit über 400 Bussen und unzähligen Privatfahrzeugen waren die Menschen aus ganz Deutschland angereist. 600 Bauern beteiligten sich mit ihren Traktoren an der Kundgebung. Die Veranstalter, ein Bündnis von örtlichen Initiativen und überregionalen Verbänden, waren hochzufrieden: „Der breite Protest zeigt, dass die Bevölkerung die Klientelpolitik der Bundesregierung für die Atomkonzerne nicht akzeptiert.“
Auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover wurde an ihrem ersten Tag durch die Diskussion um den Castortransport bewegt. Beim Eröffnungsgottesdienst am Sonntag sagte der Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen: „Die wirtschaftlichen Interessen der Energiekonzerne dürfen nicht der Maßstab für politische Entscheidungen sein.“ Viel Applaus bekam auch der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider: „Für mich übersteigt die Dauer der Strahlung der einzulagernden Brennelemente das dem Menschen gegebene Maß an Verantwortung.“
Mitarbeit: Philipp Gessler, Martin Kaul, Julia Seeliger, Christian Jacob, Felix Dachsel
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