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Der beste Castor aller Zeiten

BILANZ Der größte, teuerste und umstrittenste Castoreinsatz der deutschen Geschichte erreicht mit anderthalb Tagen Verspätung sein Ziel

Die Bilanz der Polizei: 8 Festnahmen, 1.316 Ingewahrsnahmen, 172 eingeleitete Strafverfahren

WENDLAND taz | Jetzt ist es vorbei. Als am Dienstag um 9.46 Uhr die elf weißen Castortieflader ins Zwischenlager Gorleben rollen, ist es ruhig geworden im umliegenden Wald. Jochen Stay, das Gesicht des Anti-Atom-Widerstands, steht in seiner gelben Regenjacke hinter Polizeigittern gegenüber den großen Gittertoren des Lagers und guckt zu. Die vergangene Nacht hat er bei der Sitzblockade verbracht. Er hat keine Minute geschlafen. „Früher war ich in diesem Moment immer frustriert“, sagt er. „Diesmal irgendwie ganz und gar nicht.“

Nach 96-stündiger Fahrt und mit anderthalb Tagen Verspätung ist der langwierigste, teuerste und vermutlich am stärksten umkämpfte Atommüll-Transport in der deutschen Geschichte am Dienstag im niedersächsischen Zwischenlager Gorleben eingetroffen.

Der Zug, der am Freitag im französischen Valognes gestartet war, wurde von großen Demonstrationen und Blockadeaktionen begleitet, die den Koloss bereits seit Frankreich immer wieder aufhielten (siehe unten).

Hinter Jochen Stay und all den anderen Atomkraftgegnern liegen drei Tage, in denen sie dem Staat einiges abverlangt haben. Denn diese Proteste waren größer und wirksamer als alle vorherigen.

Bereits in der Nacht zu Montag hatten bis zu 5.000 Menschen über 20 Stunden teils bei Minusgraden auf einem Schienenstück in der Nähe der Ortschaft Harlingen den Tross für eine ganze Nacht lang aufgehalten. Als der Zug nach der Räumung am Montag dann wieder rollen konnte, um die Castoren am Verladekran in Dannenberg für das letzte Straßenstück auf Schwertransporter zu verladen, folgten zwei weitere Blockaden: Keine 300 Meter vom Zwischenlager in Gorleben entfernt hielten es bis zu 4.000 Menschen auf Stroh, Isomatten und Decken bis Dienstagmorgen aus, ehe die Polizei die bis dato längste Sitzblockade der Wendlandgeschichte auflöste. Zu diesem Zeitpunkt hatten manche Demonstranten es bereits 43 Stunden am Stück in der Blockade ausgehalten.

Mit einem weiteren Coup sorgte Greenpeace in der Nacht zu Dienstag dafür, dass der Transport eine weitere Nacht stillstehen musste: Am Montagabend hielt ein zunächst unscheinbarer Biertransporter auf der zentralen Weggabelung vor dem Verladekran. Im Inneren des Fahrzeugs hatten Greenpeace-Leute ein kompliziertes Stahlbetonsystem errichtet: Aus dem vermeintlichen Lieferwagen heraus senkten sie zwei mit Beton gefüllte Stahlschächte bis auf den Straßenasphalt hinab. Darin standen, miteinander verkettet, in Beton eingelassene Umweltschützer. Weil diese von innen zudem mit Bohrhaken den gesamten Laster an den Asphalt befestigt hatten, benötigte die Polizei 13 Stunden, ehe sie die Aktivisten befreien und den Lkw entfernen konnte.

Und das war längst nicht alles: Nachdem bereits im September bis zu 100.000 Menschen in Berlin gegen Atomkraft auf die Straße gegangen waren, kamen am Samstag 50.000 Demonstranten nach Dannenberg, in eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Und 4.000 Schotterer versuchten am Sonntag, die Gleise zu unterhöhlen. Eine Schäferin trieb 1.700 Schafe und Ziegen auf die Transportstrecke. Robin-Wood-Aktivisten hingen in den Bäumen. Ein Protest-Paraglider schwebte über dem Castortransport. Und die Bauern aus dem Wendland blockierten mit ihren Treckern Verkehrskreuzungen und ketteten sich in Blockadepyramiden auf der Strecke fest. Das ist die Protestbilanz.

Die Bilanz des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU) lautet hingegen: 20.000 Polizisten im Einsatz, darunter 78 durch „Störer“ verletzte Beamte, zudem 8 Festnahmen, 1.316 Ingewahrsnahmen, 172 eingeleitete Strafverfahren und 117 beschlagnahmte Traktoren. Schünemann hält den Einsatz für schwierig und kräftezehrend: „Die Polizisten sind bis an die Grenzen ihrer Belastung gekommen.“

Ehrenamtliche Sanitäter erhoben am Dienstag Vorwürfe gegen die Polizei. Polizisten hätten am Sonntag verhindert, dass eine schwerverletzte Frau abtransportiert werden konnte. Auch seien Sanitäter selbst mit Schlagstöcken traktiert worden.

Während Schünemann über die Zahl der verletzten Atomkraftgegner keine Angaben machen wollte, zählte allein die Kampagne „Castor schottern“ rund 1.000 Verletzte auf ihrer Seite, von denen viele Augenreizungen durch Pfefferspray, Knochenbrüche und Kopfplatzwunden erlitten haben sollen.

Vorwürfe gegen die Polizei erhob auch die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Die unter freiem Himmel errichtete Gefangenen-Sammelstelle, die vor Ort errichtet und mit Polizeifahrzeugen und Wasserwerfern abgesichert war, sei rechtswidrig gewesen. Die Menschen seien bei Minusgraden ohne Kälteschutz festgehalten worden.

Damit sind im Wendland beispiellose Protesttage zu Ende gegangen, die in Berlin nicht unbeachtet blieben. Kaum wurde von Aktivisten im Wendland am Wochenende kritisch bemerkt, dass Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) sich seit Amtsantritt noch nicht in Gorleben habe blicken lassen, sicherte dieser zu, noch in diesem Jahr einen Ortsbesuch zu machen.

„Wir haben gezeigt, dass mit uns gerechnet werden muss“, sagte die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek. Sie sieht die Pläne von Bundesregierung und Energiewirtschaft, hochradioaktiven Atommüll in den Salzstock Gorleben zu bringen, angesichts der Proteste als gescheitert an. Der Atomexperte von Greenpeace, Mathias Edler, bilanzierte: „Das war der Anfang vom Ende der Castortransporte ins Wendland, der Anfang vom Ende des Endlagerstandortes Gorleben und der Anfang vom Ende der Atompolitik.“

Doch die Frage bleibt: Nach einem Protestaufmarsch, den es so noch nie gegeben hat – wie kann es danach weitergehen? Anti-Atom-Veteran Jochen Stay setzt seinen Rucksack auf. Man kann zufrieden sein mit dem Erreichten dieser letzten Tage, sagt er. „Wir haben ein Signal gesetzt, das die Regierung nicht mehr ignorieren kann.“ Jetzt werde der Protest auch weitergehen. Zu Stuttgart 21, zur Landtagswahl in Baden-Württemberg, und wenn das Pannen-AKW in Krümmel Anfang 2011 tatsächlich wieder ans Netz gehen soll. „Die Diskussion hat jetzt erst richtig begonnen“, glaubt Stay.

Doch auch Gegenseite wird nicht untätig bleiben: Nur wenige Stunden nach dem Castortransport ordnete das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie an, die Erkundungsarbeiten für das mögliche Atommüllendlager in Gorleben wieder aufzunehmen.

JÖRN ALEXANDER, FELIX DACHSEL, CHRISTIAN JAKOB, MARTIN KAUL, MALTE KREUTZFELDT, KONRAD LITSCHKO, REIMAR PAUL, JULIA SEELIGER

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