: In die ethnische Falle getappt
JUGOSLAWIEN Wo es keine kritische Geschichtswissenschaft gibt, müssen die Literaten ran. In Wien sprachen exjugoslawische Autoren über die Balkankriege, ihre Ursachen und Folgen
AUS WIEN DORIS AKRAP
Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für das Jugo-Palaver. So urteilte der slowenische Autor Drago Jancar über das Literaturfestival „Jugoslavija revisited“, das am Wochenende in Wien stattgefunden hat. Aus (fast) allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens hatte der Kunstverein Alte Schmiede in Kooperation mit der Übersetzerin Alida Bremer über 20 der bekanntesten Schriftsteller und Schriftstellerinnen eingeladen, darunter sogar Autoren, die aus der italienischen Minderheit in Kroatien und der ungarischen in Serbien stammen.
Die einmalige Zusammensetzung des Festivals sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen einem kroatischen und einem serbischen Autor grundsätzlich so ist wie zwischen anderen Menschen auch: Wer sich mag, ähnliche Ansichten hat oder gut miteinander streiten kann, trifft sich, redet, trinkt, raucht und geht gemeinsam auf Lesereise. Doch das Interesse der Veranstalter war es, fast 20 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens Romanciers, Essayisten und Poeten erklären zu lassen, wie es zu dem brutalen Ende Jugoslawiens kommen konnte, das zwischen 1991 und 1995 allein in Bosnien rund 100.000 Tote forderte.
Nicht vertrauenswürdig
Literaten als Beobachter und Deuter von Geschichte zu befragen, hat in diesem speziellen Fall auch etwas damit zu tun, dass Historiker des ehemaligen Jugoslawien, aber auch der Nachfolgestaaten nicht vertrauenswürdig sind. Fünf Bücher, erzählte der Belgrader Soziologe Todor Kuljic, habe ein bekannter Akademiker über Tito geschrieben. Kaum war Tito tot, wurde der Akademiker zum Nationalisten. Auf die Frage, woher sein Sinneswandel käme, lautete die Antwort: „Ich war immer ein innerer Dissident.“ Der Mangel an wissenschaftlicher Geschichtsschreibung sei eines der größten Probleme, betonte auch die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Deshalb sei auch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag so wichtig. Sonst würde man noch heute daran zweifeln, dass es im bosnischen Srebrenica ein Massaker an 8.000 Zivilisten gegeben hat.
Doch Literaten sind nun mal weder Historiker noch Soziologen. Der bekannte bosnische Erzähler, Essayist und Dramatiker Dzevad Karahasan hielt denn auch einen Vortrag über das „Leben zwischen Spiegeln“. Anhand einer Erzählung von Vladan Desnica beschreibt er die paradoxe Situation einer Familie, die vor den Bombenangriffen der Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs aus der kroatischen Hafenstadt Zadar in das Dorf Smiljevce flüchtet: „Sie wissen alles über ihre bisherige Welt, sind aber kein Teil mehr von ihr. Was sie sehen und verstehen, können sie nicht berühren und riechen, und was sie nicht berühren und mit eigenen Augen sehen, können sie nicht verstehen und sich nicht mit dem Geist aneignen.“ Desnica spiegelte die Situation vieler der anwesenden Autoren, die in den 1990er Jahren ins Exil gegangen waren. Karahasan pendelt zwischen Graz und Sarajevo, andere leben mehr in Toronto als in Belgrad wie David Albahari, mehr in Stuttgart als in Pristina wie der albanische Autor Beqe Cufaj.
Zum Kampf um Erinnerung und historische Wahrheit vor allem in Gebieten, in denen ein Bürgerkrieg stattgefunden hat, bemerkte der kroatische Autor und Literaturwissenschaftler Svjetlan Lacko Vidulic, dass jeder Finanzexperte, der die Börsenzahlen kommentiert, nach Paragraf 34b des Wertpapierhandelsgesetzes sein persönliches Portfolio offenlegen muss. Die persönliche Aktien aufdecken muss jedoch kein Geschichtsexperte oder Hobbyhistoriker, der öffentlich das Geschehen ganzer Kontinente kommentiert, obwohl dies den Verlauf der Geschichte weit mehr beeinflussen kann als der Börsenkommentar die Kursentwicklung.
Flucht vor der Verstrickung
Vor allem jüngere Autorinnen wie Ivana Simic Bodrozic legten auf dem Festival ihre Aktien offen: 1982 in Vukovar geboren, wuchs sie nach der Zerstörung der Stadt in einem Flüchtlingsheim auf. Vehement setzte sich die junge Dichterin auf den Podien für die unerbittliche Aufarbeitung der Kriegsursachen und -ereignisse ein. Hingegen hielten sich ältere Literaten mit Einschätzungen von Ursache und Ereignissen eher zurück, was Besucher als Flucht vor der eigenen Verstrickung in die jugoslawische Geschichte deuteten.
Tatsächlich wirkten jene Autoren, die in ihren Werken oft mit einer unerhörten Leichtigkeit und bitterem Witz die Gesellschaften Jugoslawiens und der Nachfolgestaaten sezieren, in Wien alles andere als leichtfüßig. Gerade bei den serbischen Schriftstellern hatte man das Gefühl, sie trügen die Last der Anschuldigungen gegen die serbische Politik auf ihren eigenen Schultern. Doch anders als der Autor David Albahari, der als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde 500 Juden aus Sarajevo evakuierte, bevor die Stadt belagert wurde, und auch anders als der Autor Dragan Velikic, der nach der Ära Milosevic vier Jahre serbischer Botschafter in Wien war, ist der Diplomat Wolfgang Petritsch tatsächlich an Entscheidungen wie dem Dayton-Vertrag, der Bosnien nach ethnischen Kriterien aufteilte, beteiligt gewesen. Nachdem der bosnische Autor Mile Stojic davon erzählte, dass sein Land im Chaos versinke, zögerte Petritsch keine Sekunde und gab unumwunden zu, dass der Dayton-Vertrag in die ethnische Falle getappt und falsch gewesen sei.
Der albanische Autor Beque Cufaj sprach etwas aus, auf das sich alle einigen konnten. Die Menschen in den postjugoslawischen Staaten sehnten sich heute nicht mehr nach Jugoslawien, sondern nach einem Europa ohne Visumspflicht. Dass Jugoslawen nie ein Visum brauchten, um europäische Staaten zu besuchen, gehört allerdings auch zu dieser Geschichte.
■ Die Vorträge und weitere Texte zum Thema sind in der aktuellen Ausgabe der Wiener Zeitschrift Wespennest nachzulesen: „Jugoslavija revisited“. 111 Seiten, 12 Euro
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